Nachrichten aus einem Entwicklungsland
Wenn sich Filmhistoriker treffen, werden gern Anekdoten ausgetauscht. Oft handeln sie von der Begegnung mit charismatischen Gestalten, mit temperamentvollen Filmemachern oder den verschlagenen Gründern von Kinematheken. Ebenso oft handeln sie von verblüffenden Entdeckungen, die im Dunkel der Archive geschahen. Nach meiner Einschätzung passiert das heute etwas seltener. Die Erinnerung an solch heroische und abenteuerliche Epochen erlischt allmählich, die persönliche Verbindungen an sie brechen fort.
Auf dem Filmerbe-Festival »Film:ReStored_01«, das an diesem Wochenende in Berlin stattfand, konnte Martin Koerber allerdings eine wunderbare Geschichte erzählen. Der Filmrestaurator und Leiter des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek stellte seinen Kollegen Eric LeRoy vom französischen Filmzentrum CNC vor. Vor 20 Jahren habe er Eric einmal besucht, als er zur Vorbereitung der Robert-Siodmak-Retrospektive der Berlinale Ausschau hielt nach Filmen, die der Regisseur im französischen Exil gedreht hatte. Le Roy konnte ihm nicht nur Kopien der gesuchten Werke zur Verfügung stellen. Er hatte da noch einen anderen, kleinen Film, der seinen Kollegen in diesem Zusammenhang bestimmt interessieren müsste. Es handelte sich um die erste Regiearbeit des Kameramannes Eugen Schüfftan, die gewissermaßen als Nebenprodukt der Dreharbeiten zu »Menschen am Sonntag« entstand. Bisher hatte niemand von ihr gehört. »Ins Blaue hinein« tauchte in keinem Verleihkatalog auf, auch die Zensur passierte das Kuriosum nicht. Martin war auf die Spur eines Filmes gekommen, »der nicht existiert, den es einfach nur gibt«. Was für eine schöne Formulierung, welch magische Vorstellung! Seither ist das halblange Regiedebüt, in dem unter anderen Theo Lingen auftritt, selbstredend Teil der offiziellen Geschichtsschreibung geworden und hat als Bonusmaterial der Criterion-DVD von »Menschen am Sonntag« eine gewisse Sichtbarkeit erlangt.
Im Verlauf des Festivals, das eigentlich eher ein Kongress nebst digital restaurierten Filmbeispielen war, hatte ich ausführlich Gelegenheit, mir Gedanken über den Generationenwechsel an Kinematheken zu machen. Die Zeit der autokratischen Gründerväter, die wie ein Drache über ihre geheimen Schätze wachten, ist längst vorüber. Vereinzelt gibt es noch Bindeglieder zu dieser Ära, als paranoide Hasardeure wie Henri Langlois die Bestände ihrer Sammlungen, schon aus Angst vor den Rückforderungen von Rechteinhabern, mystifizierten. An ihre Stelle sind besonnene Sachwalter getreten, die Wert auf Transparenz legen. Sie tragen Verantwortung und müssen Rechenschaft ablegen. Michael Hollmann etwa, der Leiter des Bundesarchivs, gab sich als »guter Beamter« zu erkennen, der »erst einmal nach Zuständigkeit fragt«. Auch Eric Le Roys Vortrag über die Digitalisierungspraxis des französischen Filmzentrums hatte einen redlich bürokratischen Zug. Dem digitalen Zeitalter entspricht ein nüchterner Stil. Daran ist nichts Ehrenrühriges. Aber die Wortmeldung von Dr. Thorolf Lipp vom Kulturrat, der eine Opposition zwischen illusionslosen Experten und engagierten Amateuren errichtete, konnte ich ebenso gut nachvollziehen wie die tückische Frage, die Christiane Schleindl vom Filmhaus Nürnberg stellte: »Wie kriegen wir da Begeisterung rein?«
Das Interesse an der Bewahrung des Filmerbes war stark an diesem Wochenende. Der große Kinosaal des Arsenal war meist überfüllt. Es saßen keineswegs nur Fachleute im Publikum, sondern auch zahlreiche engagierte Amateure. Natürlich spielte das Für und Wider der Digitalisierung eine Rolle, aber nicht keine so zentrale wie bei dem Symposium, über das ich im Eintrag »Brandnostalgisch« vor einigen Wochen schrieb. Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek und auch Michael Hollmann gaben erneut Bekenntnisse zum Originalerhalt ab; diesmal einen Hauch überzeugender. Das Schreckgespenst eines »ersetzenden Digitalisierens« stand dennoch im Raum; in einigen Ländern der westlichen Hemisphäre ist es tatsächlich zur gültigen Maxime geworden. Wie eng der finanzielle Spielraum für hiesige Institutionen ist, wurde dem Publikum nachdrücklich vor Augen geführt. Wenn man hört, dass das Bundesarchiv über ein Budget von gerade einmal rund 50 Millionen Euro verfügt (das hauptsächlich von Personalkosten geschluckt wird), bedauert man fast die Schelte (»Vernichten Sie keine Kopien, geben Sie sie an private Sammler!« lautete ein Zwischenruf), der Herr Hollmann ausgesetzt ist.
Für Filmmuseen und Archive ist natürlich die Umkehrung der hübschen Geschichte vom Anfang eine kapitale Sorge: Wie lässt sich verhindern, dass Filme, die es gibt, nicht mehr existieren? Paolo Cherchi Usai vom George Eastman Museum in Rochester gab zu Bedenken, dass wir im Digitalen Zeitalter mehr Filmgeschichte verlieren als je zuvor. Jon Wengström vom Schwedischen Filminstitut berichtete, wie dort drohenden Verlusten Einhalt geboten wird. Seit 2012 verfolgt die Institution eine Doppelstrategie, für die sie offenbar großzügige Mittel erstreiten konnte. Auch für Wengström gilt das Prinzip des Originalerhalts (was immer häufiger jedoch auch bedeutet, eine DCP in diesem Format zu bewahren). Die Digitalisierung des Filmerbes wird auch zum Zweck seiner größeren Verfügbarkeit vorangetrieben. Um den Bestand an analogen Filmkopien zu sichern (die in den letzten Jahren auch zunehmend von privaten Sammlern deponiert werden), hat das Institut relativ kostengünstig das letzte Kopierwerk in Stockholm erworben und einige Techniker übernommen. Diese nähern sich dem Rentenalter, also wird auch Geld in die Weitergabe ihres Knowhows an eine jüngere Generation von Filmrestauratoren gesteckt. »Aber wenn es keinen Rohfilm mehr gibt, ist unser Kopierwerk tot«, sagte Wengström. Allerdings sei der Niedergang von Kodak mittlerweile aufgehalten, dort würde wieder mehr Material hergestellt.
Eric Le Roy schilderte, wie das CNC die Digitalisierung fördert. In den letzten vier Jahren stellte das Filmzentrum Rechteinhabern über 43 Millionen Euro zur Verfügung. Das sind zum Teil Subventionen, zum Teil aber auch rückzahlbare Mittel. Der Katalog der Kriterien, die Rechteinhaber erfüllen müssen, ist lang. Wer beispielsweise einen Stummfilm neu auswerten will, muss ein präzises Konzept für die Musikbegleitung vorweisen. Filme, die (etwa durch Vorverkäufe ans Fernsehen) kommerziell eine sichere Bank sind, werden tendenziell eher nicht bezuschusst. Die Fördermittel betragen im Schnitt 90% der Kosten. Wenn mich meine Notizen nicht trügen, ließ das CNC für die Restaurierung von Jacques Rivettes »Out 1« sage und schreibe 600000 Euro springen. Im Schnitt unterstützt das Filmzentrum Restaurierungsprojekte mit rund 75000 Euro.
Demgegenüber sei Deutschland ein Entwicklungsland, meinte Martin Koerber in seiner Anmoderation der Podiumsdiskussion zur Frage »Was soll vom deutschen Filmerbe digitalisiert werde?«. Peter Dinges von der Filmförderungsanstalt kann derzeit maximal 15000 Euro pro Projekt zur Verfügung stellen. Der Eigenanteil der Rechteinhaber muss 20% des Budgets ausmachen, liegt in der Regel aber höher. Dies seien keineswegs nur Vorhaben, Filme auf DVD oder Blu-Rray herauszubringen respektive als Video on demand zu vertreiben. Die überwiegende Zahl der Anträge ziele zu seinem Erstaunen und seiner Freude auf Kinoauswertungen. Die FFA betreibt Wirtschaftsförderung, da sieht der Kriterienkatalog ein wenig anders aus als in Frankreich. Dinges drängte darauf, einfach erst einmal loszulegen - nicht ins Blaue hinein, aber um die Politik in Zugzwang zu bringen. Vor allem die Bundesländer würde er gern stärker in die Pflicht nehmen, aber die zögern beharrlich. Ist das die berüchtigte Bund-Länder-Falle? Frankreich profitiert demgegenüber heftig von der Zentralisierung.
Auch die öffentlich-rechtlichen Sender ziehen sich zusehends aus ihrer Verantwortung zurück. Die Historie sei jedoch eine Daseinsvorgabe für unsere und nachfolgende Generationen, hob Thorolf Lipp vom Kulturrat hervor, so wichtig wie die Luft zum Atmen. Er brachte den Vorschlag eines Filmerbe-Kanals ins Spiel. Diese Idee sollte weitergedacht werden, finde ich. Auch kuratierte Plattformen im Netz wurden kurz als Vertriebsform angesprochen; allerdings nicht nach dem Vorbild von Youtube. In fast ausnahmslos allen Punkten herrschte grundsätzliche Übereinstimmung unter den Podiumsteilnehmern. Dynamik kam durch einige Zwischenfragen in die Diskussion. Der Filmkritiker Fabian Tietke fragte, ob das Gutachten von PriceWaterhouse Coopers (siehe meinen Artikel »Das Arche-Noah-Prinzip« in der Aprilausgabe von epd Film) denn wirklich die einzige Utopie sei, die man in Deutschland zu entwickeln bereit sei? Daraufhin war entrüstete Verlegenheit zu spüren. Cornelia Klauß vom Bundesverband für kommunale Filmarbeit, die das Podium moderierte, gab zu Bedenken, dass man beinahe schon eine Generation verloren habe, die sich fürs Filmerbe interessiere. Ein Erbe kann man eben auch ausschlagen.
Eingangs deutete ich an, dass ich den Begriff »Festival« für unzutreffend halte. Das fand am Wochenende im sehr deutschen Sinne eines Arbeitsfestivals statt. Peter Dinges brachte es selbstironisch auf den Punkt, als er das Gespräch mit dem Taxifahrer rekapitulierte, der ihn zum Filmhaus gefahren hatte: »Sie schauen sich keine Filme an, Sie reden nur drüber?« Es war viel Pflicht zu spüren, Neigung zeigte sich eher selten. Im Werkstattgespräch von Daniel Meiller und und Julia Wallmüller, die von der Digitalisierung experimenteller Filmsprache bei der Deutschen Kinemathek berichteten, klang echte Begeisterung für den Gegenstand an. Der Regisseur RP Kahl, der die Deutsche Filmakademie vertrat, erzählte vom ungeheuren Eindruck, den die Vorführung von Antonionis restauriertem »Blow up« bei den Cannes Classics einst auf ihn machte. Er war bestimmt eine Spur zu berauscht von der eigenen Begeisterungsfähigkeit. Aber wie er die Aura beschrieb, die das Grün des Grases in der Eröffnungsequenz besitzt (»Ganz anders als auf der DVD!«), wird mir im Gedächtnis bleiben.
Dass ein Filmerbe-Festival ganz anders aussehen kann, führen das Institut Lumière in Lyon und die Cinémathèque francaise in Paris seit einigen Jahren sehr erfolgreich vor. Auch dort werden Fachgespräche geführt, aber vor allem wird die Schaulust des Publikums kultiviert. Es ist selbstverständliche auch eine Frage des Budgets, ob man Clint Eastwood, Martin Scorsese, Catherine Deneuve oder Jerry Schatzberg einlädt, die ihre Filme (und die Anderer) präsentieren und das Gespräch mit dem Publikum suchen. In Berlin war viel von der Sichtbarkeit des Filmerbes die Rede. Aber auf einem Festival wird auch gefeiert. Für die nächste Ausgabe wünsche ich mir mehr cinéphilen Elan, der ansteckend wirkt.
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