Brandnostalgisch

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Wer sich auf der Autobahn in Richtung Sachsen-Anhalt bewegt, wird an der Landesgrenze mit einem freundlichen »Willkommen im Land der Frühaufsteher« begrüßt. Einer wie ich müsste sich hier augenblicklich heimisch fühlen. Vermutlich sollen die Schilder jedoch zukünftige Investoren inspirieren. Aber kämen die nicht eher mit dem Flugzeug?

Wie in jedem guten Werbeslogan steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit. Einer Forsa-Umfrage zufolge stehen die Landeskinder im Durchschnitt neun Minuten früher (exakt um 6:39 Uhr) auf als die übrigen Bundesbürger. Anlass zu ungebrochenem Selbstbewusstsein gibt diese Erkenntnis aber wohl nicht. Der frühe Zeitpunkt, zu dem die Wecker klingeln, ist auch dem Umstand geschuldet, dass viele Arbeitnehmer pendeln müssen, da sie nur in benachbarten Bundesländern eine Stellung finden konnten.

Jeder Frühaufsteher weiß aus Erfahrung, dass er dann keineswegs immer ausgeschlafen ist. Aber es drängt ihn eben, den Tag unverzüglich in Angriff zu nehmen. Die Konkurrenz ist mittlerweile ja vielleicht auch schon wach. Als Selbstdarstellung eines Bundeslandes zeigt es jedenfalls den Wunsch, politische und ökonomische Entwicklungen nicht zu verschlafen. Insofern war die Landesvertretung von Sachsen-Anhalt ein triftiger Rahmen für das Symposium, das die Sektion Film im Deutschen Kulturrat vor einigen Tagen veranstaltete. Unter dem Motto »Vergangenheit braucht Zukunft« wurde über die Pflege des Filmerbes diskutiert. Die Podien und das Publikum waren hochkarätig besetzt: Zahlreiche Vertreter von Institutionen und Interessenverbänden meldeten sich während der Debatten zu Wort. Das Genie des Ortes zeigte sich auch in der Auswahl von Verben, die an der Wand des Vortragsaals zu lesen sind und die von der Tatkraft der aufgeweckten Sachsen-Anhaltiner künden: kämpfen, prüfen, zelten, staunen; »scheitern« hingegen wurde von einer Leinwand zuvorkommend verdeckt, und der Begriff »schrämen« sagt wohl nur Bewohnern einer Bergbauregion etwas. Man war allerdings froh, dass da statt dessen nicht »schreddern« stand.

Ich vermute, Dr. Thorolf Lipp, der die Veranstaltung konzipierte, hatte sie sich etwas weltstürzender vorgestellt, als sie tatsächlich ausfiel. Seine Einführung jedenfalls ließ sich hochtrabend an. Er beschwor die großen historischen Umbrüche (Mauerfall, 11. September), setzte dem Schlagwort vom Ende der Geschichte das vom Anfang der Beschleunigung entgegen. Als metaphorischer Brückenschlag zum Thema war das nicht unelgant, aber gewagt. Auf die Gefilde einer Fachtagung über Filmarchivierung ließ sich das schwerlich herunterbrechen.

Der Untertitel, den Lipp dem ersten Podium gab, »Wozu aufbewahren? - Zur Bedeutung des audiovisuellen Erbes für eine vitale Bürgergesellschaft« blieb zwar weitgehend uneingelöst. Aufschlussreich wurde es trotzdem. Um das Für und Wider der Digitalisierung muss immer noch gestritten werden. Die Fahrlässigkeit, mit der sich das Gutachten von Price WaterhouseCoopers über die Einschätzung der Archive hinwegsetzte und eine Entbehrlichkeit analogen Archivmaterials postulierte (siehe http://www.epd-film.de/themen/filmarchivierung-das-arche-noah-prinzip), löst nach wie vor Empörung aus. Der Filmhistoriker und -archäologe Dr. Dirk Alt wir nicht müde, vor dem Digitalisierungswahn zu warnen. Er war gewissermaßen als Freischärler eingeladen, der im Gegensatz zu seinen Mitdiskutanten kein Rücksichten nehmen muss auf institutionelle Bindungen. Als sein Gegenspieler trat Dr. Michael Hollmann auf, der Präsident des Bundesarchivs. Natürlich erklärte er, sich ebenfalls dem Axiom des Originalerhalts verpflichtet zu fühlen. Indes gab er sich wenig Mühe zu kaschieren, als welch leidiges Überbleibsel eines obsolet werdenden Ethos' er das betrachtet (»Das Dumme an Archivaren ist ihre Liebe zum Gegenständlichen.«) und berief sich auf einen Zwist zwischen Commissario und Signora Brunetti, den er dahingehend entscheiden würde, den Text und nicht das Buch aufzubewahren.

Auch Rainer Rother vom Berliner Filmmuseum vertrat eine Gedächtnisinstitution, die Überkommenes verwahren muss. Einer Nostalgie für die 35mm-Kopien mochte er nicht das Wort reden. Warum sich auch gegen die Zeit stemmen? Die Archive stünden am Ende der Nahrungskette und müssten nachvollziehen, was die Branche macht, und in Deutschland gebe es nun einmal keine analoge Filmproduktion mehr. (Ich ertappte mich dabei, wie ich kurz an die Worte eines Schurken aus »Spectre« dachte: »It's not personal. It's the future.«) Rother beklagte, dass es eine funktionierende Lobbyarbeit für die Produktion gibt, aber keine für die archivarische Pflege. Ob er sich über die vollmundigen Beteuerungen des medienpolitischen Sprechers der Linksfraktion im Bundestag, Harald Petzold, gefreut hat, der den Filmarchiven statt der im Gutachten geforderten fünf oder zehn Millionen Euro gern jährlich sage und schreibe 30 Millionen bereitstellen würde? Tabea Rößner, sein Pendant bei den Grünen, ergriff leider selten das Wort, wies aber auf die Besonderheit des Materials Film hin. Die geladenen Vertreter der Regierungsparteien nahmen pikanterweise nicht an der Diskussion teil.

Sehen sie ihre Politik als alternativlos an? Andernorts formiert sich immerhin Widerstand. Rolf Coulanges, der als Vertreter des Verbandes der Kameraleute im Publikum saß, gab zu Bedenken, dass die US-Studios unbeirrt analog archivieren. In London sei gerade ein neues analoges Kopierwerk gegründet worden. Auch in Finnland gebe es eine Initiative, weiterhin entschlossen Filmmaterial zu sammeln. Coulanges ist übrigens kein eingefleischter Gegner der Digitalisierung, die als Hilfsmittel bei der Lichtbestimmung von Fachleuten seit 25 Jahren geschätzt wird. Barbara Fränzen, Leiterin der Filmabteilung im Wiener Kanzleramt merkte aus dem Publikum an, in Österreich ginge die Diskussion eindeutig in Richtung des analogen Archivierens, weshalb die Regierung auch das Inventar des letzten, insolventen Kopierwerks aufgekauft hat. Felix Austria! Ein Wiener Kollege bestätigte mir gerade, die Entscheidung, was damit geschehen soll, solle Mitte August getroffen werden. Entscheidend ist dabei nicht zuletzt die Frage, was aus den Technikern werden und wie ihr Sachverstand fortan genutzt wird.

Die zweite Podiumsdiskussion über die Sichtbarkeit des Filmerbes brachte einige niederschmetternde Befunde zutage. Ernst Szebedits von der Murnau-Stiftung sagte, es gebe keine Nachfrage mehr für ihre Filme, die müsse die Stiftung selbst generieren. Die einst wichtigsten Partner, die öffentlich-rechtlichen Sender, gehen von der Fahne. Beachtlichen Erfolg feiern hingegen Stummfilmaufführungen mit Live-Musik. Aus dem Publikum wurde die lustlose Präsentation deutscher Filmgeschichte auf DVD (»Es gibt allenfalls Booklets, in denen dann steht, das sei eigentlich kein guter Film.«) bemängelt. Auf diesem Panel machte auch das traurige Wort vom Filmfriedhof im Internet die Runde. Allerdings stoßen DVDs mit historischem Filmmaterial aus der eigenen Region oder Stadt auf eine erstaunliche Resonanz. Diese interessanten Angebote waren mir neu.

In der dritten Diskussionsrunde, die von der Filmwissenschaftlerin Barbara Flückiger immer wieder zackig auf Spur gebracht wurde, ging es um Strategien und Techniken der Langzeitverwahrungen. Flückiger, die sich auf die Moderation wie auf einen Vortrag vorbereitet hatte, malte per Power Point das Schreckgespenst eines doppelten Schwarzen Lochs an die Wand: den Verlust des analogen Materials und den von digitalen Produktionen, deren Trägermedien obsolet werden könnten. Dienstleister und andere Fachleute konnten ihr diese Sorge nicht gänzlich nehmen. Die Digitalisierung ist ein technischer Entwicklungsprozess von einer ungeheuren Dynamik, dem eine weniger große Dynamik des Verstehens dieser Entwicklungen entgegensteht. Beim analogen Filmmaterial ist hingegen die Entwicklung abgeschlossen, da werden keine neuen Formate mehr entstehen. Damit geht ein Verlust an Knowhow in den Kopierwerken einher, dessen Tempo mich bestürzt hat: Die Digitalisierung bricht sich erst seit knapp einem Jahrzehnt Bahn. Wie kann das so blitzschnell verloren gehen? Auch Martin Koerber vom Berliner Filmmuseum beklagte dieses Verschwinden. Der erfahrene Film-Restaurator erinnerte an einstige Kompetenzzentren wie das Staatliche Filmarchiv der DDR. Heute müsse man ins Ausland schauen. Er wusste Erstaunliches zu berichten über das Labor »L'immagine ritrovata« in Bologna (Koerber zufolge eigentlich ein mittleres Stadtbildarchiv), das mit Filialen in Paris und Hongkong ein weltweites Geschäftsmodell für den Umgang mit historischen Filmen etabliert hat. Darüber würde ich gern mehr erfahren. Allerdings erlosch der allgemeine Elan irgendwann gegen Ende des Tages. Er war ein lang gewesen; nicht nur für Frühaufsteher.

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