Dokumentarfilme: Mal eben die Welt verbessern
»Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen« (2015)
Die Dokumentarfilmproduktion läuft heiß: jeden Monat neue Filme über Ökokollaps und Politelend. Gut gemeint sind sie alle. Aber sind sie auch gut gemacht? Matthias Dell über die feinen Unterschiede
Warum eigentlich ist die Idee des Remakes für den Spielfilm reserviert? Für Wiederaufnahmen von Stoffen, die nicht nur ökonomisch motiviert sind wie die Klassikerneuauflage-Sequel-Prequel-Sucht der aktuellen Franchisekultur, sondern auch künstlerisch? Für Filme, die den alten Stoff im Bewusstsein seiner Geschichte infiltrieren wie Martin Scorseses »Kap der Angst«, der 1991 die Protagonisten des damals dreißig Jahre alten Originals, Robert Mitchum, Gregory Peck und auch Martin Balsam, zu teilnehmenden Randfiguren seiner diabolischen Aufladung des Stoffs machte? Oder für Experimente wie Gus Van Sants beinahe kunstfilmhafte Hitchock-Rekonstruktion »Psycho« von 1998?
Das Remake kann es nur im Spielfilm geben, weil der Gedanke an Wiederholung, Variation und Aneignung mit Bezug auf die Wirklichkeit unseriös erscheint. Und Bezug auf die Wirklichkeit – das ist das, was Dokumentarfilme haben sollen; die müssen rausgehen wie die Nachrichten und immerfort etwas Neues erzählen. So stellt sich zumindest das Bild eines guten Teils der aktuellen Dokumentarfilmproduktion dar, auch wenn dieses Bild bei genauem Hinsehen unscharf wird.
Rob Hopkins – den kennen Sie sicher
Anfang Juni kommt der französische Dokumentarfilm »Demain« in die deutschen Kinos, wo er unter dem englischen Titel »Tomorrow« läuft. Sein Thema ist der sorgenvolle Blick in eine Zukunft von Überbevölkerung, Klimaveränderung und Ernährungsproblemen, der durch positiv-praktische Beispiele für ein lebenswertes Morgen aufgehellt werden soll. Zu den Alternativen zum global operierenden Konzernkapitalismus gehört das Modell der englischen Transition Towns, das der Dozent und Aktivist Rob Hopkins erklärt. Hopkins hat etwa an der Einführung einer eigenen Währung in seiner Heimatstadt Totnes mitgewirkt, die, weil sie nur dort etwas wert ist, lokale Geschäfte stärkt.
Deswegen kennen Zuschauer, die mit Tomorrow nicht ihren ersten Dokumentarfilm dieser Art sehen, Rob Hopkins bereits aus Filmen wie »10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?« von Valentin Thurn aus dem vergangenen Jahr. Und nicht nur aus dem: Der Eintrag von Hopkins in der Internet Movie Database (IMDb) verzeichnet noch sieben weitere Aufritte als »himself« in dokumentarischen Arbeiten, weshalb man an den Running Gag des B-Movie-Darstellers und Lehrfilmmoderators Troy McClure bei den Simpsons denken kann, der sich immer vorstellt als jemand, den man aus anderen Zusammenhängen kennen sollte: Hi, mein Name ist Rob Hopkins, Sie kennen mich auch aus Dokumentarfilmen wie »Die Ökonomie des Glücks« oder »Symphony of Soil«. Der Witz berührt einen neuralgischen Punkt. Er wirft nämlich die Frage auf, wie nachhaltig es eigentlich ist, einen Film nach dem anderen über die immer gleichen Nachhaltigkeitsprojekte anzuwerfen, also Gelder zu besorgen, Reisen zu machen, Gesprächspartnerzeit zu beanspruchen. In der Konsequenz des Meinens, das von Filmen wie »Tomorrow« oder »10 Milliarden« ausgeht, läge durchaus ein Handeln, das mit produktionellen Ressourcen sparsam umgeht. Für die Filmautoren bedeutete dies, den Begriff von Autorschaft anders zu denken, weil es für das Ventilieren von Hopkins' Idee dann nicht mehr darum ginge, sich seine Gedanken noch einmal von ihm in die eigene Kamera sagen zu lassen.
So kann man sich dem Genre des globalisierungs-, konsum- oder kapitalismuskritischen Dokumentarfilms vor dem Hintergrund künstlerischer Fragestellungen nähern. Denn natürlich ist die Kritik begrüßenswert, die solche Filme auf verschiedene Weise leisten – das Nachvollziehen von Zusammenhängen, das Aufzeigen von Alternativen. Es geht bei »Tomorrow« oder »10 Milliarden« um etwas, das man früher Gegenöffentlichkeit genannt hätte, und es ist nicht schwer, mit der Welt von Rob Hopkins zu sympathisieren, in der das lokale Miteinanderbeschäftigtsein auf gleich mehreren Ebenen die Entfremdung verkürzt, die der globale Industriekapitalismus herstellt.
Viele Dokfilme sind eigentlich Reportagen
Aber in diesen Erzählungen verschwindet eine Ambition, die den künstlerischen Dokumentarfilm auszeichnet. Das bedeutet nicht, dass Filme wie »Tomorrow« oder »10 Milliarden« nicht ihren Sinn hätten, es besagt lediglich, dass sie die Vorstellung von Kunst verengen, weil es sich dabei um Journalismus handelt. Und weil diese Art und Weise des Filmemachens dann etwa in der deutschen Filmverwaltungsbürokratie mit Projekten konkurriert, die sich weniger leicht vorhersagen lassen: Eine Dokumentarfilmemacherin, die sich um neue, experimentelle, zumindest idiosynkratische Zugänge zu einem noch unbekannten Stoff bemüht, wird es vor Gremien, denen es um Berechenbarkeit und Kontrolle geht, schwerer haben als ein Projekt, das ein journalistisches Ziel ausweisen kann.
Susan Gluths Film »Urmila – für die Freiheit«, der Ende Mai in die deutschen Kinos gekommen ist, hat ein ehrenhaftes Ansinnen – der Geschichte von versklavten Mädchen in Nepal zu einer Öffentlichkeit zu verhelfen –, ist erzählerisch aber nicht mehr als die Verfilmung der »Spiegel«-Reportage, aus der er hervorgegangen ist. Eine »Spiegel«-Reportage macht im deutschen Filmförderungsantragswesen als Anhang zu all den ausgefüllten Formularen Eindruck: Wenn schon vorher feststehen muss, was sich beim Dokumentarfilm während der Arbeit erst ergibt (sic), dann garantiert die bereits vordramatisierte journalistische Beschreibung größtmögliche Sicherheit. Die Redakteure der Sender müssen nur noch gewichten, wie oft sie dieses oder jenes »Thema« schon hatten – in diesem Sinne würde aktuell das Urmila-Schicksal wohl den Tomorrow-Ansatz toppen. Gleichzeitig bannt eine »Spiegel«-Reportage die Angst, selbst auf eine noch unbekannte Geschichte stoßen zu können. Einen Satz wie »Davon habe ich noch nie etwas gehört« äußern deutsche Angestellte im Förderapparat zumeist vorwurfsvoll und selten freudig – das Unbekannte gehört ins Reich des Ungewissen (polemischer gesprochen: Riskanten), mit dem die Filmförderbürokratie schon wegen ihrer Bürokratiehaftigkeit nichts zu tun haben will.
Dabei wäre zu hinterfragen, welche Öffentlichkeit ein Film wie »Urmila – für die Freiheit« im Kino tatsächlich herzustellen vermag, wo er häufig allein aus budgetmathematischen Gründen landet (gewisse Förderungen gibt es nur mit Kinostart) und eine fünfstellige Zuschauerzahl als Erfolg gelten würde. Was gemessen an der knapp siebenstelligen Auflage des »Spiegel« eine ebenso überschaubare Zahl wäre wie im Vergleich selbst zu einer erwartbar niedrigen Quote in den Nacht- und Randprogrammen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Immerhin winkt am Ende dieser Verwertungskette noch eine von fünf jährlich vergebenen Auszeichnungen beim Grimme-Preis in der Sparte »Information und Kultur«.
Vom Themendokumentarfilm zum Essay
Medienlogisch ist dieser Weg journalistischer Themendokumentarfilme wie »Urmila – für die Freiheit« keineswegs. Denn zum einen müssen solche etwas komplexeren journalistischen Projekte auch deshalb ins Kino ausweichen, weil das deutsche Fernsehen seinen Begriff von dokumentarischer Arbeit und Information noch enger definiert (»Die 20 besten Brücken Hessens«). Zum anderen läge der Gedanke in Zeiten der Konvergenz nahe, dass die journalistische Recherche, die zur »Spiegel«-Reportage führt, von einer Kamera begleitet wird und damit den Film schon mitliefert. Der Dokumentarfilm müsste sich folglich andere Gegenstände suchen.
Das gilt auch für die Globalzusammenhangsbeschreibungen, die »Tomorrow«, »10 Milliarden« und all die anderen Spartengeschichten betreiben, die in den letzten Jahren erschienen sind: über die Zukunft der Energie und des Wassers (»Power to Change« und »Bottled Life«), der Bienen (»More than Honey«) oder des Fischs (»Sushi – The Global Catch«).
Der Unterschied zwischen den Filmen besteht nicht in der Eigensinnigkeit des gedanklichen Entwurfs. Den findet man durchaus im jüngeren Dokumentarfilm – bei Joshua Oppenheimer (»The Act of Killing«, »The Look of Silence«), bei Ivette Löcker (»Nachtschichten«, »Wenn es blendet, öffne die Augen«) oder Thomas Heise (»Material«, »Städtebewohner«). Man findet diesen Eigensinn auch bei Arbeiten wie Lutz Dammbecks kürzlich ins Kino gekommenem Essay »Overgames«, auch wenn man dem bescheinigen muss, dass er nicht das Opus magnum im Werk des Filmemachers geworden ist, als das er sich qua Länge (164 Minuten) und Überbau empfiehlt (Ideengeschichte der Revolution, Verbindung von Psychotherapie und Fernsehen, westdeutsche Kollektivbiografie der in der Nazizeit Geborenen). Die Hartnäckigkeit, mit der Dammbeck an einem Werk arbeitet, das die Verbindungen von Politik und Kunst, Revolution und Paranoia zu erkunden versucht (»Das Meisterspiel« von 1998, »Das Netz« von 2003), lässt aber den Künstler als Autor erkennen.
Der Presenter-Dokumentarfilm
In Filmen wie »Tomorrow« wird diese Position dagegen lediglich von einer Geste besetzt, die »ich« sagt. »Vor drei Jahren, ich war damals schwanger, erzählte mir Cyril von dieser Studie...«, setzt Tomorrow ein, der seine Attraktivität daraus ableitet, dass dieses »Ich« von Mélanie Laurent ausgesprochen wird, die als Schauspielerin bekannt ist (»Inglourious Basterds«), hier aber mit Freunden Regie führt. In »10 Milliarden«, wo ebenfalls ein »Ich« die Bewegung der Recherche vorgibt (»Ich mache mich auf eine Reise um die Welt«) und zwischendurch dem Publikum die Schlüsse aus dem Gesehenen souffliert (»Ich denke, dass die Landwirtschaft anders finanziert werden muss«), wird die Autorenposition von Valentin Thurn ausgefüllt, der sie gewöhnlicher und unglamouröser auslegt, was sich als Entsprechung zum Kleinen und Lokalen, von dem der Film erzählt, selbst erklärt.
Nimmt man noch Michael Moore dazu, das Hollywood des »Ich«-Sagens, die Rampensau des Presenter-Dokumentarfilms, der in »Where to Invade Next« kürzlich ebenso das finnische Schulsystem als Humus einer besseren Gesellschaft pries wie nun Mélanie Laurents Film »Tomorrow« hat man die Bandbreite aktueller Dokumentarfilmmoden beieinander – und landet ob der Ähnlichkeit der additiven Weltverbesserungsvorschläge und Globalzusammenhangs-erklärungen wiederum bei der Frage nach dem Remake. Denn ähnlich wie die »Urmila«-Illustration des »Spiegel«-Texts bringen »10 Milliarden«, »Where to Invade Next« und »Tomorrow« keine bemerkenswerten Formen des Dokumentarischen hervor; sie integrieren bestehendes journalistisches Material lediglich in zeitgemäßen Schick (Laurent), polemische Wurschtigkeit (Moore) und zielgruppenaffines Interesse (Thurn) – ohne dadurch unbedingt eine größere Öffentlichkeit zu erreichen: Zehn Jahre nach Erwin Wagenhofers Essensfilm »We Feed the World«, der seinerzeit fast 400 000 Menschen in deutsche Kinos zog, interessierten sich für Thurns »10 Milliarden« nurmehr 50 000 Besucher. Was schon als relativ große Zahl für diese Form des Dokumentarfilms gelten muss – selbst der Bestsellerautor und Oscarpreisträger Moore erreichte mit seinem europaschmeichelndem »Where to Invade Next« hierzulande bislang nicht einmal 15 000 Zuschauer.
Diese Zahlen haben vermutlich auch etwas mit dem Wandel auf dem Bewegtbildmarkt zu tun, der seit zehn Jahren ein riesiges Archiv von YouTube-Filmen und Clips verfügbar hält. Vor diesem Hintergrund erscheint die Notwendigkeit des neunten Films, der Rob Hopkins' Ideen zum lokalen Wirtschaften eine Bühne baut, noch einmal geringer: Da wird dann lediglich Material generiert, das in seine einzelnen Teile zerlegt bei YouTube Karriere machen kann. Diese Clips könnte Hopkins auch gleich selbst produzieren, denn die meisten Views hat nicht ein kurzer Ausschnitt aus »Tomorrow« (immerhin mehr als 5000), sondern der Vortrag bei einem knackig portionierbaren Populärwissenschaftsdistributionstool wie der TED-Konferenz (mehr als 120 000). Für den Dokumentarfilm wäre die Suche nach dem nachhaltigen Remix solchen Materials auch künstlerisch die interessantere Aufgabe.
»Urmila – Für die Freiheit« (Start 26.5.)
»Tomorrow« (Start 2.6. )
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