Lauschangriff aufs Stummfilmkino

Zuerst verlockte mich der geheimnisvolle Klang des Namens: Ist Tih-Minh ein ferner Ort oder eine Figur? Ein Versprechen von Exotik und Unergründlichkeit lag darin. Es liegt bald 28 Jahre zurück, dass mir der Titel von Louis Feuillades Film zum ersten Mal begegnete. Es war während eines meiner ersten Seminare bei den Theaterwissenschaftlern, das sich mit der Frühzeit des Kinos beschäftigte. Ich hatte mir ein besonders faszinierendes Referatsthema ausgesucht: die Serials der 1910er Jahre. Gemeinsam erzählten eine Kommilitonin und ich voller Begeisterung von Filmen, die wir nie zu Gesicht bekommen hatten.

Mir war der amerikanische Teil zugefallen, The Perils of Pauline und andere Filme mit der unerschrockenen Pearl White. Meine Co-Referentin sprach über Feuillade. Von dessen Fantômas und Les Vampires hatte ich schon gehört - der WDR strahlte dankenswerterweise gerade eine Reihe mit Filmen von Georges Franju aus, der ja ein großer Fan des Filmpioniers war und ein prächtiges Remake von Judex gedreht hat. Und dann fiel dieser mythische Name: Tih-Minh. Sogleich war ich in den Bann geschlagen von Feuillades filmischem Universum. Einige Jahre später hatte ich die Gelegenheit, in der Kinemathek in Düsseldorf Les Vampires zu sehen, über die das Publikum mit Feuillades Enkel Jacques Champreux und dem sowjetischen Meisterregisseur Leonid Trauberg diskutieren konnte. Ein prägendes Erlebnis! Trauberg erwies sich als hellsichtiger, gar nicht schwärmerischer Bewunderer des französischen Filmemachers. Auf die Zuschauerfrage nach dessen wichtigster Inspirationsquelle antwortete er mit antikapitalistischer Süffisanz: Léon Gaumont, Feuillades Arbeitgeber.

Unter den großen Stummfilm-Serials Feuillades ist Tih-Minh das unbekannteste geblieben; im Gegensatz zu den meisten anderen ist es bisher nicht auf DVD greifbar. Wenn das Berliner Arsenal es nun zeigt, ist das also ein seltenes, kostbares Ereignis. Die sechsstündige Serie läuft, am Klavier von Eunice Martin begleitet, vom heutigen Mittwoch (14.5.) an. Die zwölf Teile, die ab Februar 1919 in wöchentlichem Abstand in französische Kinos kamen, sind auf vier Abende verteilt, was mithin ein maßvolles binge watching erlaubt (www.arsenal-berlin.de).

Vom Schauplatz und Genre her unterscheidet sich Tih-Minh erheblich von seinen Vorgängern. Feuillade hat diesmal nicht in Paris, sondern in Nizza und Monte Carlo sowie deren provencalischen Hinterland gedreht. Die Gefahren der Banlieue werden abgelöst vom Gift im Garten Eden, wie der Feuillade-Kenner Francis Lacassin schreibt. Es ist weniger ein Kriminal-, als vielmehr ein Abenteuerfilm, steckt aber wie seine Vorgänger voll surrealer Bilderfindungen: Scharen junger Frauen aus der besseren Gesellschaft, von ihren Entführern unter Drogen gesetzt und in ein Kellerverlies gesperrt (zu welchem Zweck eigentlich?), tollen nach ihrer Befreiung in heute züchtig anmutenden Nachthemden durch eine Villa und deren Park; ein Hund dient als Brieftaube. Im Zentrum steht die schöne Annamitin (damit Sie nicht nachschlagen müssen, habe ich das rasch selbst getan: ein Volksstamm aus dem Grenzgebiet von Vietnam und Laos) Tih-Minh, die dem französischen Forschungsreisenden Jacques d'Athys in Indochina das Leben gerettet hat. Seither sind sie einander in inniger Liebe verbunden und wollen heiraten, was bis zur 12. Episode jedoch beharrlich von einer Bande vereitelt wird, die in einer Villa in der Nachbarschaft finstere Pläne schmiedet. Die Schurken, die sich bald als deutsche Spione entpuppen, haben es auf ein Buch abgesehen, das d'Athys aus Asien mitgebracht hat und das ein Staatsgeheimnis birgt. Wer seinen Hitchcock kennt, dem wird sofort das Wort Mac Guffin durch den Kopf schwirren. Und auch auf eine andere Frage, die sich dem Engländer unablässig stellte, weiß sein französischer Kollege die Antwort: Warum die Polizei einschalten, frohlockt d'Athys, wir sind in das größte Abenteuer der Menschheitsgeschichte verstrickt, das müssen wir bis zum Ende verfolgen!

Die Zeit der Handlung ist nicht präzise bestimmt – es gibt eine Reihe von Rückblenden, damals eine kühne Innovation, in das Indochina des Jahres 1911 -, der historische Hintergrund schreibt sich vergleichsweise diskret (am Bahnhof von Nizza sind vereinzelt Soldaten auszumachen) in die Intrige ein. Ein zentrales Motiv jedoch, Amnesie, ist ein klassisches Nachkriegsthema. Die bevorzugten Waffen der feindlichen Spione sind Hypnose und Gehirnwäsche. Erst nach zweieinhalb Stunden fällt der erste Schuss und es dauert eine weitere Stunde, bis der erste Tote zu beklagen ist, dem vergleichsweise wenige folgen werden. Dem zeitgenössischen Publikum wird die Kaskade von Anschlägen, Entführungen und Verfolgungsjagden ungeheuer spannend und spektakulär erschienen sein. Wer sich im Kino die Gabe des Staunens bewahrt hat, dem mag es auch heute noch so ergehen. Wer lieber dem Diktat der Aktualität gehorcht, sei auf die Abhöraktionen der verschlagenen Spione verwiesen. Die Schauplätze des Films (Villen, Casinos und Kliniken) spielen mit der Doppeldeutigkeit, öffentliche Orte zu sein, an denen sich zugleich Geheimes, Verborgenes zuträgt.

In der zweiten Hälfte, wo sich die Handlung immer halsbrecherischer in die dramatische Gebirgslandschaft der Provence verlagert, nimmt die Serie ungemein an Fahrt auf. Dafür ist nicht zuletzt d'Athys Diener Placide verantwortlich, der ungleich gewitzter und geistesgegenwärtiger als sein Arbeitgeber agiert. Auch Tih-Minh, die anfangs weitgehend abwesend ist – sie wird unablässig entführt oder in Kliniken untergebracht, da sie unter Drogeneinfluss ihre Erinnerung verloren hat -, darf nun ihre Unternehmungslust und Tatkraft unter Beweis stellen. Feuillade war bekannt dafür, während der Dreharbeiten beständig neue Handlungslinien hinzuzuerfinden. Diese Improvisationslust mag dafür verantwortlich sein, dass in der Kopie, die ich gesehen habe, die Zwischentitel zwischen Präsens und Vergangenheitsform changieren. Vor allem aber verleiht sie Tih-Minh eine tollkühne Kurzatmigkeit. Jede Partei ist der anderen immer nur einen Schritt voraus, jede Schurkerei wird alsbald durchschaut, jedes Gift umgehend durch eine unschädliche Substanz ersetzt. Ahnte Feuillade bereits die moralische Ambivalenz späterer, aufgeklärterer Spionagefilme voraus, in denen sich alle Seiten der gleichen Methoden bedienen? Gleichviel, Etappensiege waren seinem Publikum aus dem blutigen Krieg vertraut, der erst wenige Monate zuvor ein Ende gefunden hatte.

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