Kritik zu The Witch: A New-England Folktale

© Universal Pictures

Hysterie, Aberglauben, Religion und Gesellschaftsordnung im Neuengland der 1630er Jahre: Regisseur ­Robert Eggers bringt in seinem Spielfilmdebüt gleichermaßen sorgfältig wie effektvoll Genreelemente aus Horror- und Legendenerzählung zusammen

Bewertung: 5
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4.3 (Stimmen: 3)

Die Figuren sehen aus, als wären sie uralten Tafelbildern entstiegen, die in den entlegenen Sälen schlecht besuchter Museen vergeblich auf Betrachter warten. Und ihre Sprache hört sich an, als entstamme sie schweren Folianten, die in lange nicht mehr geöffneten Bibliotheksschränken allmählich dem Vergessen anheimfallen. Sie kommen aus dunklen Ecken, und der Staub der Jahrhunderte lastet auf ihnen. Aus einem fernen Damals nähern sie sich und bringen ihre längst untergegangene Welt mit. Um sie uns zu zeigen. Um uns zu erzählen von den Nöten, die vormals das Dasein bestimmten. Seinerzeit, als die Menschen noch gottesfürchtig waren. Und die Betonung hier liegt auf Furcht.

Die Rede ist von »The Witch«, einem dieser Filme, die plötzlich da sind und für Furore sorgen. Keiner hat sie kommen sehen, keiner hat mit ihnen gerechnet. Aber mit einem Male sind die Karten neu gemischt, ein Hoffnungsschimmer zeigt sich am Horizont, und die leidgeprüften Freunde und Freundinnen des Horrorfilmgenres dürfen aufatmen und den ewigen Mäklern entgegnen: Seht ihr, geht doch! Von wegen Langeweile und Ödnis und immer das Gleiche! Schaut euch diesen Film an und behauptet, er wäre nicht innovativ; wagt es, und der schwarze Philip wird euch holen!

»The Witch« ist das nach eigenem Drehbuch inszenierte Spielfilmdebüt von ­Robert Eggers, der, 1983 geboren und in New Hampshire aufgewachsen, zunächst in New York experimentelles Theater machte, bevor er begann Kurzfilme zu drehen und als ­Designer für Film, Fernsehen, Bühne und Tanztheater zu arbeiten. Seine Premiere feierte das Werk beim Sundance Film Festival 2015, wo es von der Kritik hoch gelobt und mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Über fünf Jahre hat Eggers, der expressionistische Stummfilme, Ingmar Bergman und Stanley Kubricks »The Shining« zu seinen Einflüssen zählt, an dem Projekt gearbeitet. Sorgfältige Recherche und Liebe zum Detail prägen Bild- wie Tonebene seines Films und sorgen für eine faszinierend authentische Anmutung. Die Dialoge basieren auf Tagebüchern, Gerichtsakten, Gebetsbüchern und Pamphleten; Kostüme und Szenenbild orientieren sich an den Gegebenheiten im Museumsdorf Plimoth Plantation; der von Adam Steins unheimlichem Sounddesign perfekt unterstützte Score des kanadischen Komponisten Mark Korven setzt zeitgenössische Instrumente ein; und Kameramann Jarin Blaschke setzt natürliches Licht und entsättigte Farben mittels Objektiven aus den 50er Jahren im die Vertikalen betonenden 1:1.66-Format ins Bild. Der Untertitel »A New-England Folktale« nimmt zudem eine Zuordnung vor, die die leeren Versprechungen zahlreicher »based on a true story«- beziehunsgweise »on actual events«-Filme tatsächlich einlöst. Und eigentlich geht diese Zuordnung sogar weit über solche Versprechungen hinaus.

Angesiedelt ist die Geschichte von »The Witch« in Massachusetts, Neuengland, etwa um 1630 und damit noch gut 60 Jahre vor jener unseligen religiös motivierten Massenhysterie, die schließlich in die Hexenprozesse von Salem mündete. Was Eggers erzählt, ist also schon etwas länger her, und dementsprechend anders dachten und handelten auch die Menschen, die zu dieser Zeit lebten.

Aufgrund von Differenzen, den wahren Glauben und dessen Praxis betreffend, verlassen ein Farmer, seine Frau und ihre fünf Kinder den Schutz einer kleinen befestigten Kolonie und siedeln sich weitab am Rand eines Waldes an – von dem her alsbald etwas Unheimliches sich auszudehnen scheint. Ohnehin ist das Farmerleben mühsam, die Winterkälte kündigt sich an, die Maisernte ist schlecht, und dann verschwindet auch noch der Säugling, Samuel, buchstäblich unter der Nase von Thomasin, der ältesten Tochter, die eben erst »das Zeichen ihrer Weiblichkeit« empfangen hat, also menstruiert, und deren zunehmend beunruhigter Blick die Perspektive der Narration lenkt.

Hat eine Hexe das Baby in den Wald verschleppt? Straft Gott die Familie solcherart für die mannigfachen Sünden, derer sie sich schuldig gemacht hat? Sünden, die unvermeidlich sind, weil ihr rigides und repressives Moralsystem den Menschen von vornherein als verderbtes Wesen determiniert, dessen Chancen auf Gnade und Erlösung ach so gering sind. Die Bedrohung des Seelenheils durch die Versuchungen des Teufels, eines konkret und körperlich gedachten Bösen, ist allgegenwärtig. Eben dies macht Thomasin und die Ihren für Vorstellungen, die wir Heutigen eher den Sphären von Wahn und Hysterie zuordnen, so empfänglich. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.

Die kleine Farmersfamilie gerät in Konflikte, die sie sich nur mit dem Übernatürlichen erklären kann, die aber zugleich für das Publikum als innerhalb der streng patriarchal organisierten Gemeinschaft ziemlich normal und auch gegenwärtig lesbar sind. Die Eheleute machen einander bittere Vorwürfe; die Kinder beschuldigen sich gegenseitig der Hexerei und schwärzen einander bei den Eltern an; misstrauisch beäugen Vater und Mutter ihre Brut, allen voran die herangewachsene Thomasin – und Thomasin lehnt sich auf. Heimlichkeiten und Lügen vergiften die Atmosphäre, und das Unheil aus dem Wald nistet bald schon in den Herzen und zerfrisst die Gehirne.

Im Grunde ist »The Witch« zwei Filme zugleich: Ein von größtmöglicher Akkuratesse im Umgang mit dem historischen Stoff geprägter Horrorfilm, der seinen Gegenstand wörtlich nimmt. Und das psychologische Drama einer Familie, deren Mitglieder unter dem Eindruck des Unerklärlichen mannigfachen Neurosen erliegen und sich schließlich gegenseitig zerfleischen. Beide Filme wurzeln gleichermaßen berechtigt in jeweils unterschiedlichen Begriffen des Monströsen, beide lehren eines: das Fürchten.

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Kommentare

ganz vorzügliche Kritik/Rezension. Nichts ist hinzuzufügen, man könnte nur erweitern und immer wieder zustimmen. Hier weiß jemand genau, was sie/er schreibt.

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