Angriff aufs Kino?
»Beasts of No Nation«
Die Streamingdienste Netflix und Amazon sind in die Spielfilmproduktion eingestiegen. Wenn Terry Gilliam und Nicolas Winding Refn für die drehen – braucht man dann noch Kino?
Wendepunkte und Zäsuren hat es im Lauf der nunmehr 120-jährigen Geschichte des Kinos immer wieder gegeben. Der Siegeszug des Farbfilms, die Einführung der Breitwandformate, die 3D-Technik und zuletzt die Digitalisierung der Projektion haben die Film- und Kinogeschichte geprägt und verändert. Aber nur die wenigsten Einschnitte lassen sich eindeutig datieren. Der 6. Oktober 1927 ist mit Sicherheit einer dieser Tage: Der Kinostart von Alan Croslands und Gordon Hollingsheads Musical-Drama »The Jazz Singer« hat das Ende des Stummfilms eingeläutet und zugleich auch besiegelt. Ein anderer Tag, an dem die Karten noch einmal ganz neu gemischt wurden, ist der 16. Oktober 2015.
Für einige ist dieser 16. Oktober, an dem der Streamingdienst Netflix Cary Joji Fukunagas Kriegsfilm »Beasts of No Nation« in zahlreichen Ländern online veröffentlicht hat, der Tag, an dem der vielleicht letzte Damm gebrochen ist. »Spiegel Online« titelte entsprechend reißerisch: »Filmoffensive von Netflix: Angriff aufs Kino«. Nun, ein paar Monate später, präsentiert sich dem Betrachter des Geschehens ein nicht mehr ganz so dramatisches Bild. Das Kino hat diese »Attacke«, wenn es denn eine war, mehr oder weniger unversehrt überstanden. Die Multiplexe stehen noch, und auch die Arthouse-Säle sind nicht über Nacht zusammengestürzt.
Trotzdem markiert die Entscheidung des Streamingdienstes, eine auf Festivals vielbeachtete und schon im Vorfeld als Kandidat für mindestens eine zentrale Oscarnominierung gehandelte Produktion wie »Beasts of No Nation« im Internet zu starten, einen entscheidenden Wendepunkt.
Netflix hat Fukunagas Film zwar in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien parallel auch in einigen Kinos gestartet. Doch das war nur ein Zugeständnis, um Idris Elba, der in dieser Reise ins Herz der Finsternis einen größenwahnsinnigen Warlord spielt, eine Chance im Rennen um die Oscars und Golden Globes zu ermöglichen. Besucherzahlen und die aus ihnen erwachsenen Einnahmen haben den Internetkonzern dabei nicht interessiert und sind dann auch extrem niedrig ausgefallen. Viele amerikanische Kinobetreiber hatten sich geweigert, den Film überhaupt ins Programm zu nehmen. Sie kämpften so gegen eine parallele Auswertung von Filmen im Kino und im Netz. Ein durchaus verständlicher Impuls, der aber letzten Endes die Zeichen der Zeit verkennt.
Seit Jahren herrscht ein schwelender und immer wieder offen ausbrechender Streit zwischen den großen amerikanischen Kinoketten und den Studios. Während die Kinos auf ein geschütztes Zeitfenster pochen, in dem sie Filme exklusiv zeigen können, wollen Produzenten und Studios möglichst immer schneller und früher den Home-Entertainment-Markt bedienen. So ist dieses Zeitfenster in den letzten Jahren trotz aller Proteste vonseiten der Kinobetreiber immer kleiner geworden. Netflix hat es mit »Beasts of No Nation«, seinem ersten Vorstoß, nicht mehr nur im Serien-, sondern auch im Filmsegment eigene Inhalte zu generieren, gleich ganz geschlossen und so eine neue Realität geschaffen. Allerdings hat diese neue Wirklichkeit mehr mit Publicitykampagnen und der Wahrnehmung der Menschen als mit den Realitäten des Filmgeschäfts zu tun.
So revolutionär, wie viele Medien es dargestellt haben, war Netflix' Vorgehen eigentlich gar nicht. Seit 2006 etwa veröffentlicht der kleine amerikanische Verleih IFC Films, der wie auch der Kabelsender IFC dem AMC Network gehört, amerikanische Independentproduktionen und internationale Arthouse-Filme parallel in einzelnen Kinos und über ausgewählte Video-On-Demand-Anbieter. In einer Kinolandschaft, in der eigenwilligere Arbeiten und fremdsprachige Filme abseits der großen Metropolen kaum eine Chance haben, war diese Doppelstrategie praktisch unausweichlich. Über diese Streaming-Portale konnten die von IFC Films verliehenen Werke wenigstens überall in den Vereinigten Staaten gesehen werden.
Im Prinzip folgte Netflix mit der Onlineveröffentlichung von Fukunagas Verfilmung des gleichnamigen Romans von Uzodinma Iweala nur diesem Vorbild. Natürlich hätte »Beasts of No Nation« unter anderen Voraussetzungen mehr als nur 84 000 Dollar in den amerikanischen Kinos eingespielt. Doch auch ein auf kompromisslose Regiearbeiten spezialisierter Verleih hätte die Geschichte des afrikanischen Kindersoldaten Agu (Abraham Attah), der von Idris Elbas Commandant entführt und zum kaltblütigen Killer gemacht wird, wahrscheinlich nur in wenige ausgewählte Kinos gebracht.
Filme dieser Art, die künstlerisch und thematisch ihren eigenen Weg gehen, haben es an den Kinokassen in der Regel schwer, und das nicht nur in den Vereinigten Staaten. Es sei denn, es umgibt sie die Aura eines Ereignisses, das man keinesfalls verpassen darf. Doch dieser Effekt stellt sich in der Regel nicht von alleine ein. Er ist vielmehr das Ergebnis einer aufwendigen und teuren PR-Maschinerie. Und eben einer solchen Maschinerie konnte sich Netflix bedienen. Nur stand sie halt im Dienst eines Streamingportals, das seinen Abonnenten ein außergewöhnliches Programm bieten will.
In der Regel hütet Netflix seine Abrufzahlen wie ein Staatsgeheimnis. Es ist nahezu unmöglich, etwas darüber zu erfahren, wie viele Abonnenten angefangen haben, einen Film oder eine Serienepisode zu gucken. Bei »Beasts of No Nation« hat Ted Sarandos, der für die Netflix-Inhalte verantwortlich ist, dieses Geheimnis wenigstens zu einem Teil preisgegeben. Im Oktober 2015 haben alleine in den Vereinigten Staaten etwa drei Millionen Netflix-Kunden den Film gestreamt. Wie viele es in den übrigen 59 Ländern waren, in denen der Konzern zu diesem Zeitpunkt sein Programm anbot, hat Sarandos allerdings nicht bekanntgegeben. Aber allein schon die amerikanische Zahl ist mehr als beeindruckend. Bei einer traditionellen Kinoauswertung hätten »Beasts of No Nation« mit Sicherheit deutlich weniger Menschen in so kurzer Zeit gesehen.
Diese drei Millionen, die »Beasts of No Nation« angeklickt und dem Film so zumindest eine Chance gegeben haben (wie viele von ihnen den Film auch bis zum Ende gesehen haben, bleibt das Geheimnis von Netflix), werden auf lange Sicht das Wesen des Kino- und Filmgeschäfts von Grund auf verändern. Sie haben nicht nur Netflix, sondern auch dessen größtem Konkurrenten, dem Streamingdienst des Onlinehändlers Amazon, recht gegeben. Beflügelt von dem Erfolg ihrer selbst produzierten Serien streben beide seit Anfang 2015 mit aller Macht ins Filmgeschäft. Es lohnt sich nun mal für VoD-Anbieter, eigenen Content anzubieten. Zum einen werden sie so unabhängiger von den alteingesessenen Studios. Zum anderen sind eigene Produktionen äußerst werbewirksam. Sie schaffen eine Exklusivität, die Abonnenten binden kann und zugleich neue anlockt. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Verlockung für Filmemacher wie für Hollywoodstars.
Interviews zufolge stand Cary Joji Fukunaga, der vor allem als Regisseur der ersten Staffel der HBO-Serie »True Detective« bekannt geworden ist, dem Netflix-Deal zunächst skeptisch gegenüber. Ihm ging es dabei vor allem um die Kinoauswertung. Auf einer großen Leinwand mag ein Film wie »Beasts of No Nation« mit seinen dynamischen Actionsequenzen und Dschungelszenen noch einmal ganz anders wirken als auf einem Fernseher oder einem Computermonitor. Insofern ist es natürlich bedauerlich, dass Netflix auf einen adäquaten Kinostart nahezu gänzlich verzichtet hat. Aber das scheint der Preis zu sein, den Filmemacher für die enormen Freiheiten, die Netflix ihnen bietet, entrichten müssen. So hat der Internetkonzern zwar für zwölf Millionen Dollar die kompletten Verleihrechte gekauft, aber Fukunaga künstlerisch freie Hand gelassen.
Wie die von Netflix und Amazon produzierten Fernsehserien sind auch die bisher von ihnen exklusiv eingekauften oder finanzierten Filme die Werke ihrer Schöpfer. Insofern überrascht es auch nicht, dass es den beiden Streaminggiganten binnen kürzester Zeit gelungen ist, eine ganze Reihe äußerst namhafter Regisseure und Schauspieler für sich zu gewinnen. So wurde »Chi-Raq«, der erste von den Amazon Studios mitproduzierte Kinofilm, von Spike Lee mitgeschrieben und inszeniert. Die moderne Adaption von Aristophanes' antiker Satire »Lysistrata« markiert dabei für den afroamerikanischen Filmemacher so etwas wie eine Rückkehr zu seinen Wurzeln. Wie einst »Do the Right Thing« und »Jungle Fever« ist auch »Chi-Raq« ein kämpferisches Porträt des afroamerikanischen Lebens in den Vereinigten Staaten und zugleich ein klassischer Autorenfilm.
Netflix wird in den kommenden Monaten nicht nur »Crouching Tiger, Hidden Dragon: Sword of Destiny«, das von Yuen Woo-ping inszenierte Sequel zu Ang Lees Martial-Arts-Epos »Crouching Tiger, Hidden Dragon«, und Richie Smyths Kriegsfilm »Jadotville« herausbringen. Der Onlinekonzern fungiert zudem als Geldgeber zweier großer Prestigeproduktionen. In den mit Jake Gyllenhaal, Tilda Swinton, Paul Dano und Bill Nighy extrem prominent besetzten Monsterfilm »Okja« von Bong Joon-ho investiert Netflix Berichten zufolge 50 Millionen Dollar. Und David Michôds Militärsatire »War Machine«, in der Brad Pitt eine nach dem Vorbild von General Stanley McChrystal, dem ehemaligen Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Afghanistan, gestaltete Figur spielt, lässt sich der Streamingdienst sogar 70 Millionen Dollar kosten.
Angesichts dieser Filme und der Produktionen, die Amazon in den vergangenen Monaten entweder auf Festivals und Filmmärkten eingekauft oder selbst ermöglicht hat, kann man leicht ins Träumen geraten. Die Amazon Studios, die im Jahr bis zu zwölf Filme herausbringen wollen, setzen allem Anschein nach auf eine geschickte Mischung berühmter Namen und aufstrebender junger Filmemacher. So findet sich auf ihrer Einkaufsliste neben Lees »Chi-Raq« und Brian Helgelands Gangsterfilm »Legend« auch Justin Kurzels »Macbeth« und Benjamin Dickinsons eigenwilliger, sich klassischen Genrezuschreibungen entziehender Independentfilm »Creative Control«, der mit seiner bizarren Geschichte und seiner atmosphärischen Schwarz-Weiß-Ästhetik Erinnerungen an Darren Aronofskys »Pi« weckt. Außerdem sicherte sich Amazon die Rechte an weiteren spannenden Produktionen. Darunter finden sich Nicolas Winding Refns neuer Thriller »The Neon Demon«, der ohne Frage zu den am sehnsüchtigsten erwarteten Filmen des gerade begonnenen Kinojahres gehört, »Elvis & Nixon«, Liza Johnsons Film über eine der bizarreren Episoden der Nixon-Präsidentschaft mit Michael Shannon und Kevin Spacey in den Titelrollen, und die Kristen Wiig-Komödie »Desired Moments«.
Der größte Coup des Amazon-Teams rund um den erfahrenen Produzenten Ted Hope ist allerdings der Vertrag, den es mit Terry Gilliam geschlossen hat. Nach mehr als 20 Jahren kann Gilliam nun endlich sein schon legendäres Projekt »The Man Who Killed Don Quixote« realisieren. Eine kleine Sensation, die mehr als jeder andere Einkauf Amazons Bereitschaft signalisiert, exzentrische Projekte zu unterstützen und überhaupt erst zu ermöglichen. Dabei zeigt sich der Internethändler auch in anderer Hinsicht offener und kompromissbereiter als sein Konkurrent. Anders als Netflix bemüht sich Amazon um eine Zusammenarbeit mit Kinobetreibern und gesteht ihnen zumindest ein vierwöchiges Auswertungsfenster zu, bevor die Filme dann ins Streamingprogramm aufgenommen werden.
Diese Zugeständnisse wird Netflix auf keinen Fall machen. Davon zeugt auch der Vier-Filme-Deal, den der Streamingdienst mit dem Komiker Adam Sandler abgeschlossen hat. Die teils herrlich absurde und teils einfach peinliche Westernkomödie »The Ridiculous 6«, der erste der Filme, kann seit dem 11. Dezember abgerufen werden und hat laut Verlautbarungen von Ted Sarandos seither in allen Netflix-Territorien Rekorde aufgestellt. In einer Presseerklärung heißt es, dass die Komödie in den 30 Tagen nach ihrer Veröffentlichung von mehr Abonnenten gesehen wurde als andere neu im Programm erschienene Filme im gleichen Zeitraum. Das Netflix-Konzept scheint aufzugehen. Die riesige Werbemaschinerie des Konzerns macht einen Kinostart, der ansonsten durchaus eine zentrale Bedeutung für die Home-Entertainment-Auswertung hat, offenbar tatsächlich überflüssig. Und so schließt man zugleich noch die Möglichkeit aus, dass ein Flop an den Kinokassen den Ruf eines Films zerstört.
Das »Crouching Tiger, Hidden Dragon«-Sequel soll zwar parallel zum Streamingstart in die (amerikanischen) IMAX-Kinos kommen, und auch für »War Machine« hat Netflix einen Kinostart angekündigt. Trotzdem bedeuten diese Produktionen eine gewaltige Verschiebung. Das Kino der Zukunft wird nicht mehr zwangsläufig an einen Ort gebunden sein, und es muss auch kein kollektives Erlebnis mehr sein. Das heißt aber nicht, dass es insgesamt verschwinden wird.
Eine Entwicklung, die durchaus denkbar ist, wäre eine weitere Eventisierung. Der Trend zum Event hat längst begonnen. Das beweisen die Erfolge gerade auch vieler kleiner und mittlerer Filmfestivals genauso wie die bemerkenswerten Zuschauerzahlen der 70-mm-Roadshow-Version von Quentin Tarantinos »The Hateful Eight« eindrücklich. Insofern ist es vorstellbar, dass Netfilx und Amazon genau diese Entwicklung noch einmal beschleunigen. Angesichts ihrer Angebote bekommt die Entscheidung, tatsächlich die eigenen vier Wände zu verlassen und in ein Kino zu gehen, eine zusätzliche Bedeutung. Außerdem: Was spräche gegen Netflix-Nights und Amazon-Abende im Kino, an denen – wie heute schon Opern aus der Met oder der Scala – von den Internetkonzernen produzierte Filme in einmaligen Eventvorstellungen auf der großen Leinwand zu sehen wären.
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