Venedig 2015: Kindersoldatendrama »Beasts of No Nation«
»Beasts of No Nation«
Mit Cary Fukunagas Kindersoldatendrama »Beasts of No Nation« meldet sich der Streamingdienst Netflix auf dem 72. Filmfestival von Venedig als Konkurrent auf dem Kinomarkt an
In der Welt, in der solche Geschichten passieren, möchte man nicht leben: »Beasts of No Nation« erzählt aus der Perspektive eines Neunjährigen, wie ihn der Bürgerkrieg in einem namenlos bleibenden afrikanischen Land zuerst zur Waise macht und ihn dann in die zwiespältige Obhut eines dubiosen Kommandanten eines Kindersoldatenbataillons treibt. Es ist das bittere Gegenteil der üblichen "Coming-of-Age"-Kinogeschichten, denn der Neunjährige im Zentrum wird nicht erwachsen – er wird innerlich zum Greis. Am Ende der filmischen Reise durch die Höllen des Krieges mit all seinen grausamen Taten sitzt der kleine Soldat einer wohlmeinenden Psychologin gegenüber und man hört die Stimme des Kindes im Inneren Monolog: "Wie soll ich ihr erklären, dass ich ein alter Mann bin und sie ein kleines Mädchen?"
Der amerikanische Regisseur Cary Fukunaga (»True Detective«) hat mit »Beasts of No Nation« den vielgepriesenen Roman des nigerianisch-amerikanischen Autors Uzodinma Iweala verfilmt. Das Kindersoldatendrama war die erste heiß erwartete Premiere der 72. Filmfestspiele von Venedig. Das aber nicht etwa wegen seines brisanten Inhalts, sondern wegen der Tatsache, dass hiermit erstmals der Streamingdienst Netflix als Rechteinhaber einen Kinofilm auf einem der großen Festivals präsentiert. Die Branche befindet sich in heller Aufregung darüber, wird Netflix doch mit seinen Serien und seinem Geschäftsmodell von vielen als eine Bedrohung für den Kinomarkt gesehen. Die Ankündigung, »Beasts of No Nation« im Oktober in den USA am gleichen Tag sowohl ins Kino zu bringen als auch als Video on Demand zu starten, hat Netflix bereits Boycottdrohungen der großen Kinoketten Amerikas eingebracht. Andere wiederum erwarten sich von Netflix als Akteur auf dem Kinofilmmarkt neue Anregungen dafür, wie es in Zukunft weitergehen soll. Das Internet, so die allgemeine Sichtweise, das sämtliche Medienbranchen in den letzten Jahren umgewälzt hat, kann auch vor dem Kino nicht länger halt machen. Mit Spannung bleibt deshalb abzuwarten, wie sich das Modell des "Day and date release", des gleichzeitigen Starts von Kino und Video on Demand, für das Geschäft mit Kinokarten tatsächlich auswirken wird.
Einem Film wie »Beasts of No Nation« könnte das Modell in jedem Fall helfen, ein größeres Publikum zu erreichen. Obwohl er den höllischen Weg seines kleinen Protagonisten in Form einer konventionellen Narration schildert und bei der Inszenierung der Bluttaten und Grausamkeiten einigermaßen zurückhaltend bleibt und das letzte Ausmalen der Greueltaten dem Zuschauer überlässt, könnte der Film sich doch als zu hart und anfordernd erweisen für das Popcorn-Publikum der Multiplexe.
Denn die große Stärke von Fukunagas Film liegt in all dem, was er nicht tut: Für ein Mal gibt es hier keine eigens eingesetzten weißen Figuren, die dem westlichen Publikum die Identifikation in der afrikanischen Unübersichtlichkeit erleichtern sollen. In die Bresche springt hier stattdessen der schwarze Brite Idris Elba, der mit den Fernsehserien »The Wire« und «Luther« bekannt wurde. Sein Kommandant ist eine bedrohliche Mischung aus Väterlichkeit, Generals-Ehrgeiz und Lust an der Gewalt. Wobei es Elba gelingt, das Monster des Kinderausbeuters als Menschen erkennbar zu halten. Noch wichtiger aber ist, was Fukunaga neben dem allzu expliziten Ausmalen der Gewalt noch vermeidet: er verlässt sich nicht auf die einfache Emotionalisierung durch die Kinder, mit deren Leid der Zuschauer fast reflexartig mitgeht, sondern er nimmt sie ernst wie Erwachsene, mit eigener Exzentrik und eigener Persönlichkeit. Abraham Attah in der Hauptrolle ist dabei eine große Entdeckung. Wie er den alten Mann im Innern seines kindlichen Körpers sichtbar macht, ist erschütternder als jede angedeutete Kriegsgreueltat.
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