Kino und Migration – Auf der Flucht
»La Pirogue« (2012)
Warum fliehen Menschen aus ihren Heimatländern? Was wird ihnen angetan, was finden sie vor, wenn sie bei uns ankommen? Das Kino kann dem Thema Migration neue Perspektiven abgewinnen, und es nimmt diese Chance wahr. Von »Mediterranea« bis »Iraqi Odyssey«, von Afrika bis in die Pariser Banlieue – Georg Seeßlen hat sich Filme angesehen, die Flüchtlinge mit Empathie betrachten oder selbst zu Wort kommen lassen
Die Welt ist in Bewegung, und der Mensch war von Anfang an nie vollständig und endgültig zu Hause. Alle großen Erzählungen handeln von Aufbruch, Reisen und Gefahr. Aber was für den einen der Luxus des Abenteuers ist, das ist für den anderen ein Kampf ums nackte Überleben.
Mehr als 50 Millionen Menschen waren laut der letzten Statistik des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) im Jahr 2013 weltweit auf der Flucht, im Jahr darauf kamen rund zehn Millionen dazu, und ein weiterer Anstieg ist für dieses Jahr prognostiziert. Ein Ende ist nicht abzusehen; im Gegenteil, die Zahl der Länder, in denen das Leben unerträglich wird, Krieg, Hunger und Terror die Hoffnungen auf Morgen vernichten, steigt weiter.
Als Flüchtling gilt nach der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will«.
Diese Definition umfasst nicht alle Umstände einer unfreiwilligen Migration: den schlichten Hunger, die vollkommene Abwesenheit einer Perspektive für die Zukunft, die berechtigte Furcht, dass man mitschuldig werden muss – als »Wehrpflichtflüchtlinge« beschimpft ein zynischer deutscher Politiker die Menschen, die in Eritrea nicht ihr Leben dem endlosen Kämpfen und Töten widmen wollen –, die Sehnsucht danach, in einer demokratischen Zivilgesellschaft aufgehoben zu sein.
Der flüchtende Mensch und der durch Gesetz definierte Flüchtling sind nicht identisch. Humanistisch darf man eine Haltung nennen, die den Menschen sieht und nicht das Gesetz; die das Leiden sieht und nicht das »Problem«; die Hilfe leistet, nicht bloß für den Augenblick. Der politisch-rechtlichen Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen, die von der UN geboten ist, steht eine »unbedingte Gastfreundschaft« des humanistischen Menschen gegenüber.
Im Augenblick gibt es eine große Auseinandersetzung in Europa zwischen einer humanistischen, hilfsbereiten Zivilgesellschaft, die die Flüchtlinge aufnehmen und mit Menschen- und Bürgerrechten ausstatten will, einer dumpf ablehnenden, rassistischen und xenophoben anderen Bewegung und einer Politik, die zwischen beidem laviert. Dazu gibt es den gewohnten, selektiven und seriellen Fluss der Medienbilder, den ikonographischen Scherbenhaufen, Panik und Mitleid, Schicksal und Masse, keine Zeit, keine Möglichkeit, kein Interesse für einen genaueren, für einen menschlichen Blick. Hier beginnt die Aufgabe des Kinos.
Eine Grammatik des »Flüchtlingsfilms«
Das Drama der Flucht lässt sich in fünf großen Akten beschreiben. Der erste zeigt das Unerträgliche in Lebensgeschichten an einem Ort und die Zuspitzung der Lage, die eine Flucht erzwingen. Der zweite handelt vom Abschied, der dritte von den Gefahren der Flucht zwischen Abenteuer und Tragödien. Der vierte erzählt von der Ankunft, der fünfte schließlich von gelungenen oder scheiternden Versuchen, eine neue Heimat zu finden.
Es gibt wenige Filme, die das gesamte Drama der Flucht ins Auge nehmen können. Aber auch die, die sich auf das eine oder andere Kapitel konzentrieren, müssen in gewisser Weise die anderen enthalten, als Vergangenheit oder als mögliche Zukunft. Schon deshalb sind Flüchtlingsfilme vergleichsweise kompliziert.
Vielleicht kann man, um das »Ganze« von Flucht und Migration zu erfassen, gleichsam von hinten anfangen, wie es der in Bagdad geborene Schweizer Regisseur Samir in »Iraqi Odyssey« (2014) tut. Hinter dem autobiografischen Gestus des Films verbirgt sich eine große Erzählung von Flucht und Diaspora: Mehrere Generationen einer über die ganze Welt verstreuten irakischen Familie treffen sich. Wie unterschiedlich ihre Geschichten sind! Religiös oder säkularisiert, von Heimweh zerfressen – der Vater des Regisseurs, der seine Rückkehr in die Heimat mit dem Leben bezahlte –, in prekärer Beziehung zur neuen Heimat oder nomadisch, selbstbestimmt und wurzellos.
Ähnliches unternimmt Arash T. Riahi in »Exile Family Movie« (2006) mit einem fast schon utopisch-komödiantischen Anstrich. Eine iranische Großfamilie, einige in der Emigration, andere im Land geblieben, arrangiert ein Treffen am einzigen unverdächtigen Ort, in Mekka. Man feiert, isst und lacht miteinander, aber auch die großen Widersprüche zwischen den alten und den neuen Formen der Identität prallen in den unterschiedlichen Geschichten aufeinander.
Das Gegenbild zu einer solchen panoramatischen Auffächerung ist die Konzentration auf ein konkretes Schicksal in all seinen Stationen. So entfaltet »Fremd« (2011, Miriam Faßbender) das Drama der Flucht in der Geschichte eines jungen Mannes aus Mali, der beinahe drei Jahre unterwegs ist, einmal gejagt und bedroht, das andere Mal zu untätigem Warten verurteilt, bis nach Europa, ins Herz der Fremde. Gering sind am Ende die Aussichten auf ein Leben, das mehr wäre als nur ein Überleben.
»Babai« von Visar Morina (2015) macht den ungeheuren Druck und den schweren Abschied im Rahmen einer Vater-Sohn-Geschichte deutlich. Im Kosovo der 90er Jahre, inmitten des Krieges, hält man sich gerade so mit dem Verkauf von Zigaretten am Leben. Der Vater will das Land um jeden Preis verlassen, nicht nur wegen der elenden Lebenssituation, sondern auch, um mit seiner Vergangenheit in diesem Krieg zu brechen. Er plant, allein nach Deutschland zu fliehen, aber der Junge will ihn daran hindern. Als Nori im Krankenhaus liegt, nutzt der Vater die Gelegenheit. Die Motive sind verschlungen; alle nationalen oder ethnischen Identitäten verlieren ihren Sinn. Und es wird klar, dass nicht nur eine materielle Disposition die Menschen zur Flucht treibt – es geht hier auch um eine innere Disposition, einen fundamentalen Verlust von Zugehörigkeit.
Reisen mit dem Tod
Merzak Allouache beschreibt in »Harragas« (2009) die Situation der algerischen Flüchtlinge, die darauf warten, der Verzweiflung in ihrem Land mit einem Boot über das Meer zu entkommen, und sei dieses auch noch so wenig seetüchtig. Um auf Aufnahme hoffen zu können, müssen die drei Protagonisten ihre Identität aufgeben (Harragas ist die Bezeichnung für Menschen, die ihre Papiere verbrennen); sie beginnen eine Reise, auf der der Tod wahrscheinlicher ist als eine glückliche Ankunft. In »La Pirogue« (2012, Moussa Touré) vertrauen sich 30 Männer und eine Frau aus dem Senegal einem Boot an, das für keine Meeresüberquerung gedacht ist, und einem Kapitän, der als Fischer keine Zukunft mehr sehen kann.
Direkt und reportagehaft beschreibt der preisgekrönte Dokumentarfilm »The Land Between« (2014, David Fedele) die Lage der afrikanischen Flüchtlinge in den provisorischen Lagern in Marokko. Immer wieder werden Menschen bei dem Versuch, diese Schimäre eines erhofften Ziels zu erreichen, misshandelt oder getötet. »Sin Nombre« (2009, Cary Fukunaga) erzählt Geschichten von den nie abreißenden Strömen verzweifelter Menschen, die irgendeinen Weg von Mexiko in die Vereinigten Staaten suchen, von Gangstern, Betrügern und Grenzsoldaten bedroht.
Menschen auf der Flucht sind immer auch wehrlose Menschen – und daher Objekte der kriminellen ebenso wie der staatlichen Gewalt. Kaum weniger schrecklich als die Erfahrung der Gewalt ist die der vollkommenen Ohnmacht. Etwa dann, wenn die Flucht in einem absurden Niemandsland steckenbleibt. »Logbook Serbistan« (2015, Želimir Žilnik) führt an eine solche Situation des verzweifelten Innehaltens an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien. Aber es ist, zumindest in diesem Film, auch eine Situation, die Gelegenheit zur Erzählung, zur Re-Identifikation gibt.
Als sehr außergewöhnliches filmisches Wagnis begleitet und ermöglicht »Io sto con la sposa« (An der Seite der Braut, 2014, Antonio Augugliaro, Gabriele Del Grande, Khaled Soliman Al Nassiry) die letzen Abschnitte einer langen Flucht: Ein italienischer Journalist und ein palästinensischer Dichter treffen in Mailand auf fünf Palästinenser und Syrer, die über Lampedusa ins Land gekommen sind und nach Schweden wollen. Um die 3000 Kilometer und vielen Grenzen zu überwinden, tarnt man das Unternehmen als Hochzeitsreise mit einer befreundeten Palästinenserin, die die Rolle der Braut übernimmt, während andere Freunde die Hochzeitsgesellschaft abgeben. Ein Märchen, gewiss, und zugleich direktes Dokument einer ungewöhnlichen Aktion der Solidarität, die zwischen dem 14. und 18. November des Jahres 2013 tatsächlich durchgeführt wurde. Manchmal eben hilft nur die Fantasie, um die Wirklichkeit zu bestehen.
Fremde Heimat
Die Ankunft im fremden Land bedeutet noch lange nicht den Beginn eines neuen Lebens. Man wird selektiert und isoliert, ist oft so sehr auf sich selbst angewiesen, dass man an Einsamkeit und Angst zerbrechen mag. Der österreichische Film »Da.Sein« (2013, Aylin Basaran) gibt sieben Menschen aus Nigeria und Togo Gesicht und Erzählung, denen die Abschiebung widerfuhr; einige von ihnen erlebten Demütigung und sogar brutale Gewalt. Und sie kommen nicht nur als Gescheiterte und Geschundene in die Heimat zurück, sondern auch schon ein wenig als Fremde.
Für viele Flüchtlinge ist das Erreichen des Ziels viel weniger ein Ankommen als ein Stranden. Das ist das Thema von »Macondo« (2014, Sudabeh Mortezai), der Geschichte des elfjährigen Ramasan, der nach dem Tod des Vaters die Beschützerrolle in seiner tschetschenischen Familie übernehmen muss, in der Flüchtlingssiedlung Macondo im industriebrachen Niemandsland von Wien. Und für diesen Jungen beginnt nicht nur ein langer Prozess der Anpassung an seine neue Umgebung, sondern auch die Suche nach den Wurzeln der traumatischen Familien- und Fluchtgeschichte. Und man begreift, dass die Geschichte der Flucht nie zu Ende sein wird, auch nicht, wenn sie äußerlich zum Abschluss, vielleicht auch zum Beginn eines neuen Lebens geführt hat.
Fast schon ein wenig märchenhaft, in eine Romanze, lässt »Io sono Li« (2011, Andrea Segre) die Geschichte einer fundamentalen Einsamkeit münden. Die Chinesin Shun Li wird weder von den Einheimischen in einem italienischen Fischerdorf noch von den legal zugewanderten Chinesen akzeptiert, weil sie ihr Kind zurückgelassen hat, um sich hier verzweifelt aus der Schuldenfalle zu kämpfen. Nur der Fischer Bepi, der einst selbst aus Kroatien zugewandert ist, zeigt Verständnis und Zuneigung; dafür wird er massiv von seinen Kollegen bedroht.
Eine Reihe von Filmen aus Frankreich und Italien erzählt die Geschichten der »Sans Papiers«, der Migranten ohne Papiere, die der Willkür der Behörden, der Ausbeutung als billige Arbeitskräfte und am Ende der Kriminalisierung ausgeliefert sind. So etwa »Là-Bas – Educazione Criminale« (2011, Guido Lombardi), die Geschichte eines jungen Afrikaners, der sich in Italien als Handwerker eine Existenz aufbauen will. Der Regisseur, der wie Andrea Segre vom Dokumentarfilm kommt, setzte in den Hauptrollen seiner Geschichte Migranten und Flüchtlinge ein, von denen viele Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichten wiedergaben; auch das Drehbuch entstand in einem kollektiven Vorgang von Erinnerung und Kritik.
In Jacques Audiards »Dämonen und Wunder – Dheepan«, kürzlich noch im Kino, haben sich drei tamilische Bürgerkriegsflüchtlinge mit falschen Pässen in die Banlieue von Paris gerettet und geraten zwischen konkurrierende Drogenbanden – die »Zivilgesellschaft« scheint hier so weit weg wie zu Hause in Sri Lanka.
Geste, Metapher und Dokument
Im »Flüchtlingsfilm« lösen sich immer die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm auf. Auch die Grenzen zwischen Autoren und Darstellern. Im besten Fall ist ein solcher Film eine gemeinsame Arbeit am Erinnern und Ankommen. Und ein Protest der humanistischen Zivilgesellschaft gegen die Politik der Gleichgültigkeit und Gewalt.
Manchen Filmen gelingt es, nicht nur die Situation von außen zu schildern oder ein biografisches Reenactment zu erzielen, sondern das Empfinden und Wahrnehmen auf der Flucht in die filmische Sprache zu übersetzen. Gemeinsam mit Flüchtlingen hat der italienische Regisseur Jonas Carpignano »Mediterranea« (2015) gedreht und dabei bewusst auf die dramaturgischen und rhetorischen Konventionen verzichtet, mit denen man sich noch das Ungeheuerlichste plausibel macht. Was der Film stattdessen immer wieder vermittelt, ist die Orientierungs- und Ratlosigkeit, die die Menschen auf der Flucht befällt, sei es beim Fußmarsch in der Wüste, beim Überqueren des Meeres im maroden Schlauchboot oder in den unübersichtlichen dreckigen Baracken eines »Auffanglagers«. Und in dieser Geschichte einer Flucht, die von Afrika nach Rosarno führt und weiter zur elenden Schinderei der Ausbeutung, der sexuellen Belästigung der Frauen, der Auslieferung an die Mafia, der Angriffe hasserfüllter »Normalbürger«, verdichtet sich vielleicht auch schon die Geschichte dieses Jahrhunderts. Bei alledem gibt es nicht nur die Guten und die Bösen; auf der einen wie auf der anderen Seite bleiben die Widersprüche sichtbar. Was immer weiter ins Dunkle sinkt, sind die Strukturen einer geordneten Gesellschaft. So ist man verbunden mit einem Smartphone – und zugleich rettungslos allein.
In »Mediterranea« mag man zu begreifen beginnen, dass der Flüchtling der Mensch der Zukunft ist und dass jeder, auch der, der sich so angelegentlich und bösartig gegen ihn zur Wehr setzt, früher oder später in eine ganz ähnliche Situation kommen kann. Einen entsprechenden Effekt kann man durch Direktheit erzielen, aber auch im genau umgekehrten Verfahren einer vollständigen Stilisierung wie etwa in »Alois Nebel«(2011, Tomáš Luňák), der seine bizarre Geschichte vom alptraumgeplagten Bahnsteigwärter an der tschechisch-polnischen Grenze und vom illegalen Grenzgänger als düstere Animationsgeschichte erzählt. Weiter entfernt voneinander, so scheint es, können Filme kaum sein. Und doch erzählen sie beide davon, dass es nicht der Flüchtling ist, der fremd wird in der Welt, sondern der Mensch.
Die »Lösung« kann nur in der Geste der Solidarität liegen, und so entstehen Filme, die es weniger auf das Bleibende einer Erzählung als vielmehr auf eben diese Geste abgesehen haben, Filme, die buchstäblich die Menschen begleiten, wie zum Beispiel »Last Shelter« (2013) von Gerald Igor Hauzenberger, der bei einer Gruppe von Asylbewerbern aus Afghanistan und aus Pakistan verweilt, die 2012 die Wiener Votivkirche besetzten. Ihr Kampf zog sich über Monate hin, führte zu Hungerstreiks und Polizeieinsätzen, zu Abschiebungen wie zu Asylgewährungen. Das Wesentliche des Films ist, dass auch er ausharrt, standhaft bleibt, nicht wegsieht.
Eine Verwandlung der Welt
Wenn Flüchtlinge in großer Zahl auftreten, dann erzeugen sie, neben den individuellen Dramen, auch »große Erzählungen«, Legenden von zerfallenden Staaten oder von neuen Gesellschaften. Wie anders erzählt etwa der deutsche Mainstreamfilm von der Vergangenheit, in der die Integration der Flüchtlinge aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg zum Element der bundesdeutschen Gründungslegende wurde. Wie erinnern wir uns im TV-Zweiteiler »Die Flucht«, und wie sehen wir die Flüchtlinge unserer Tage? »Die Flucht« erzählt, wie eine junge Adlige einen Treck anführt, der von Ostpreußen nach Bayern zieht; es ist ein einziger gewaltiger Triumph, der in mythische Einstellungen einer neuen Einheit mündet. Die Premiere beider Teile im März 2007 wurde mit über 13 Millionen Zuschauern zum erfolgreichsten Film im Ersten seit zehn Jahren.
Beginnen nicht alle biblischen Geschichten mit Vertreibung? Mit der Flucht eines ganzen Volkes aus der Gefangenschaft in der Moses-Legende? Ist nicht ein klassischer Western im Kern immer die Geschichte von Flüchtlingen auf der Suche nach neuer Heimat? Welche andere Geschichte erzählt das Melodram aller Melodramen, »Casablanca«, als die von Flüchtlingen, die in einem Niemandsland eine Gesellschaft auf Zeit bilden – und doch auch schon wieder Hierarchien und rassistische Klischees abzeichnen? Handeln nicht viele Science-Fiction-Filme von einer Flucht vom Planeten Erde, oder davon, dass Flüchtlinge – meist in böser Absicht – auf diese Erde kommen?
Vor 25 Jahren versuchte sich das britische Fernsehen an einem filmischen Gedankenspiel. In »The March« (David Wheatley) haben Klimawandel und Bürgerkriege weite Teile Afrikas unbewohnbar gemacht; Europa scheint vom nationalen wie vom sozialen Zerfall bedroht. Die Rassisten gewinnen die Überhand. Ein großer Marsch der afrikanischen Völker beginnt, und einer seiner Anführer appelliert an Europa: »Wir glauben, wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen. Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft, dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben.« Der große Exodus endet am spanischen Strand. Nicht mit Menschen, die die Flüchtlinge willkommen heißen. Sondern vor bewaffneten Brigaden.
»The March« ist kein großer Film, aber auf unheimliche Weise exemplarisch und vorausschauend. Er fällt auf die mehrfach zitierten Worte der Europäischen Kommission herein, man sei »noch nicht bereit« für die Aufnahme so vieler Menschen. Der Film sieht in den Flüchtlingen nur das Problem, das es abzuwenden gilt, sein Plädoyer für die Menschlichkeit bleibt abstrakt. Und wenn man »Die Flucht« und »The March« zusammen sieht, ergibt sich bis in die Bildsprachen hinein eine Mainstream-Mythologie der Flucht in Europa, scheint eine grausige Vorstellung von Rassismus und Xenophobie nicht weit. Jeder seriöse Flüchtlingsfilm muss sich gegen solche Vorstellungen durchsetzen, die sich einer politischen Mythologie unterordnen, ohne es zu offenbaren.
Für eine Poesie des Ankommens
Das Kino ist nicht nur eine Technik, der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, sondern auch ein Ort des Träumens. Und so darf, wachen Auges, auch davon geträumt werden, dass Flucht ein gutes Ende nehmen kann. »La nuit et l’enfant« (2015, David Yon) lässt einen kindlichen Helden von der Wiederkehr der Sonne über dem Atlasgebirge träumen. Das Kind ist auch Träger der Hoffnung in Aki Kaurismäkis »Le Havre« (2011). Ein alter Schuhputzer, einst Schriftsteller und Träumer, nimmt sich eines Flüchtlingsjungen aus Afrika an. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Jedenfalls geht es auch hier darum, dass das Licht wiederkommt in eine verfinsterte Welt.
In der Poesie des Fluchtfilms verbünden sich die Verlierer und die Flüchtlinge, statt aufeinander loszugehen. Und es verbündet sich der Film mit den Träumen, wie in »Gineva« (2014, Nicolas Cilins): Zwei junge Männer aus Rumänien, geflohen vor der nackten Armut in ihrer Heimat, stellen in kurzen Szenen ihr Leben dar, spielen Kino und suchen im Internet ihre Lieblingslieder dazu. Dabei sind sie direkt an die Zuschauer gewandt, beziehen sie förmlich in ihr Reenactment ein.
Bei alldem gibt es auch eine Grenze der filmischen Einfühlung und eine Grenze der Darstellbarkeit. Die hat vor 15 Jahren schon Chantal Akerman in Filmen wie »De l’autre côté« (2002) oder in ihren Bildinstallationen ausgelotet, indem sie einen Un-Ort, die Grenze zwischen Mexiko und den USA, wo Tag für Tag und Nacht für Nacht eine Form des unerklärten Krieges stattfindet, künstlerisch zu ermessen sucht und dabei Grenze und Gefangenschaft gleichsam nackt darstellt, als eine Funktion der Zeit, als den Krieg gegen Menschen, wie sie sagt, »die selber nicht wissen, dass sie im Krieg sind«.
Es ist dies vielleicht eine andere, eine poetische Definition des Flüchtlings. Es ist der Mensch, der nicht im Krieg sein möchte und der doch so behandelt wird, als wäre er es. Es ist der Mensch, an dem sich zeigen muss, ob es für Menschlichkeit eine Zukunft gibt. Es ist der Mensch, den eine exemplarische und zugleich unvergleichliche Geschichte von einem Ort des Leidens an einen anderen bringt. Es ist der Mensch, der etwas Schlimmeres als den Tod fürchten muss. Nicht Mensch sein zu können.
»Iraqi Odyssey« startet am 14. Januar in den deutschen Kinos
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