Kritik zu Sin Nombre
Transit durch die Hölle: Der amerikanische Regisseur Cary Fukunaga zeigt in »City-Of-God«-Nachfolge den illegalen Flüchtlingstreck von Süd- nach Nordamerika als Pfad der Gewalt
»Al Norte« – nach Norden, in die Vereinigten Staaten, streben Hunderte namenloser Flüchtlinge, die sich am Bahnhof von Tapachula in Mexiko versammeln. Sie warten auf den nächsten Zug. Träumen den amerikanischen Traum, ihre Reise ist beschwerlich. Sie verbringen sie größtenteils auf dem Dach eines Güterzuges oder in der Hand von Schleppern, denen sie zu einem hohen Preis ihr Leben anvertrauen. Und die Reise ist gefährlich, da die Menschen Hitze und Regengüssen ebenso ausgesetzt sind wie den brutalen Machenschaften ortsansässiger Gangs.
Das ist die anonyme Seite der Migration auf dem amerikanischen Kontinent, die Schlagzeilen generiert, wenn – wie im September 2009 geschehen – der 54-jährige Fotoreporter und Filmemacher Christián Poveda in El Salvador erschossen aufgefunden wird. Er hatte 2008 in dem Dokumentarfilm »La vida loca« die rivalisierenden Jugendbanden der Region porträtiert und dabei auch den Umgang der Behörden mit den Minderjährigen kritisiert. Es gibt Gerüchte, wonach in El Salvador paramilitärische Gruppen in Selbstjustiz das Problem mit den kriminellen Banden lösen – toleriert von der Bevölkerung und der Regierung. Honduras greift zu einer Null-Toleranz-Politik; der Verdacht, Sympathisant oder Mitglied einer Gang zu sein, reicht aus, um präventiv festgesetzt zu werden. Nach Angaben von Reportern ohne Grenzen war Poveda während der Dreharbeiten Zeuge von sieben Morden geworden.
Der in Kalifornien geborene Drehbuchautor und Regisseur Cary Joji Fukunaga siedelt in diesem Umfeld eine Coming-of-Age-Geschichte an, die in ihren fiktiven Details bedrückend realistisch wirkt. Der Einfluss erfolgreicher Filme wie »Amores Perros« ist spürbar und wird auf Seite der Produzenten durch Amy Kaufman, Gael Garciá Bernal und Diego Luna bestärkt. In der Kameraführung und beim Schnitt favorisiert dieses bemerkenswerte Spielfilmdebüt, das beim Sundance Festival 2009 mit den Preisen für die beste Kamera und beste Regie ausgezeichnet wurde, jedoch einen kontemplativen Stil, der in seiner Konzentration auf die Landschaft und die Fortbewegung in dieser (per Zug, Auto oder zu Fuß) in der Tradition des Roadmovies oder Westerns steht.
Drei Jugendliche bilden das Zentrum: El Casper und Smiley, 18 und zwölf Jahre alt, die um ihren Platz in der Gang "Mara Salvatrucha" kämpfen, sowie das Mädchen Sayra, das mit seinem Vater und Onkel die Heimat Honduras widerstrebend verlässt und in Tapachula den Zug nach Norden besteigen will. Im ersten Drittel des Films schildert Fukunaga in einer Parallelmontage deren Lebenswege, die sich später kreuzen. Jeder der drei ist zuerst mit sich selbst beschäftigt. Nahezu idyllisch wirken die Spaziergänge von Casper und Smiley über Bahntrassen, bis sich eine Spirale der Gewalt hochschraubt . . .
Jeder trifft instinktiv eine moralische Wahl, die über Leben und Tod entscheidet – und damit verbreitet der Film in diesem Milieu aus Armut, Verrohung und Repression mehr Optimismus, als man erwartet hätte.
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