Kritik zu Tödliche Hilfe
»Die eigentliche Katastrophe ist nicht das Ereignis, sondern die Unfähigkeit, damit umzugehen«, so lautet die deprimierende Bilanz der Hilfseinsätze, die der Filmemacher Raoul Peck zwei Jahre nach dem Erdbeben in seinem Heimatland Haiti zieht
29.10.2013
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Das Beben hatte am 12. Januar 2010 über 230 000 Menschenleben gekostet, 300 000 Menschen wurden verletzt und mehr als 1,5 Millionen obdachlos. Die internationale Hilfswelle erschien, so der Regisseur, zunächst wie eine »Kriegserklärung gegen die Armut«. Raoul Peck, in Haiti geboren und dort in den Jahren 1996–97 als Kulturminister tätig, verband damit die Hoffnung auf einen grundlegenden Neuaufbau in seinem chronisch krisengeschüttelten Land. Mehr als drei Jahre später, so konstatierte jüngst »Le Monde diplomatique«, sieht es so aus, »als habe der Wiederaufbau noch nicht einmal begonnen«.
Peck sieht die Schuld an dieser Lage hauptsächlich in der Vorgehensweise der internationalen Staatengemeinschaft und der im Land tätigen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die von Beginn an eine Kooperation mit den einheimischen Verantwortungsträgern verweigert hätten. Mit bizarren Folgen: Hilfsmaßnahmen erwiesen sich häufig als kontraproduktiv, weil sie die vorhandenen Strukturen nicht nutzten und sich auf die lokalen Märkte zerstörerisch auswirkten. So wurden bei der von US-Präsident Obama angeordneten Soforthilfe Tonnen von Trinkwasser nach Haiti transportiert, obwohl dort genügend unverdorbenes Wasser vorhanden war. Die NGOs, so Peck, zeigten sich unfähig, ihre Arbeit aufeinander abzustimmen, und legten ihre Schwerpunkte eher auf imagefördernde Aktionen. Von einer NGO freigeschaufelte Kanalsysteme, so eines der Beispiele, liefen nachts wieder zu, weil der Schlamm nicht abtransportiert wurde, am nächsten Tag musste der Kanal von einer anderen Organisation wieder freigelegt werden.
Im Fokus von Pecks Kritik steht in erster Linie die unmittelbar nach dem Beben gegründete Interimskommission für den Wiederaufbau Haitis (IHRC) unter dem Vorsitz des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Im Kreis der 15 Partner dieser Kommission bildeten bezeichnenderweise die haitianische Regierung und Zivilgesellschaft eine Minderheit – für Peck eine Art »Diktatur der Aufbauhilfe«.
Wie viele Filme von Raoul Peck ist auch Tödliche Hilfe ein poetisch grundiertes Werk. Über eine gelegentlich verwirrende Fülle von Bildern und Interviews wird als zweite Ebene ein aus dem Off gesprochener Dialog zwischen einem Mann und einer Frau gelegt, in dem die Geschehnisse aus subjektiver Sicht kommentiert werden. Peck hat dazu Passagen aus einem E-Mail-Wechsel mit NGO-Mitarbeitern verarbeitet.
So wird aus der ursprünglich als Langzeitbeobachtung angelegten Dokumentation ein filmischer Essay, in dem Peck radikal und bewusst einseitig nicht nur mit dem Hilfsprojekt Haiti, sondern mit den Praktiken der westlichen »Entwicklungshilfe« (»humanitäre Pornografie«) grundsätzlich abrechnet. Damit aber schlägt er alle vor Ort tätigen Organisationen unterschiedslos über einen Leisten, auch wenn er diesen Eindruck in Interviews zu relativieren sucht. Enttäuschte Liebe kann auch ungerecht machen.
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