goEast 2021
»Bebia, à mon seul Désir« von Juja Dobrachkous (2021)
Das Wiesbadener goEast-Festival zeigte wieder einmal: Das Kino des Ostens erzählt andere Geschichten als Hollywood, Netflix oder auch der Independent- und der Arthousefilm
Eine dieser Geschichten handelt von Andriy Suleyman. Der 20-jährige Kurde ist ein Wanderer zwischen den Welten. Vor sieben Jahren floh er mit seiner Familie aus Syrien in die Ukraine. Nach dem Tod seines Vaters muss er nun gemäß der muslimischen Tradition dessen Leichnam überführen. Seinen Weg zurück in die alte Heimat, wo noch immer der Bürgerkrieg tobt, hat Alina Gorlova mit der Kamera festgehalten. Ihr Dokumentarfilm wurde ausgezeichnet mit der Goldenen Lilie, dem mit 10 000 Euro dotierten Hauptpreis des Wiesbadener goEast-Festivals, das aufgrund der Corona-Beschränkungen zum zweiten Mal in Folge als Streaming-Veranstaltung organisiert werden musste.
Die Entscheidung der Jury kann man nachvollziehen. »This Rain will never stop« ist bildgewaltig. Die 29-jährige Regisseurin fügt die militärischen und humanitären Krisenherde der Ukraine, der Türkei, Syriens und Deutschlands zu einem komplexen Mosaik hypnotischer Schwarz-Weiß-Tableaus. Dabei könnten die Szenarien, die die 29-jährige ukrainische Regisseurin in ihrem zweiten Dokumentarfilm aufsammelt, kaum unterschiedlicher sein. Zunächst wird Andriy Suleyman auf einer ukrainischen Veranstaltung für sein Engagement für das Rote Kreuz gewürdigt. Gegengeschnittene Bilder aus einer Waffenfabrik, in der Panzer repariert werden, erinnern an den schwelenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland.
Das Herzstück des Films bildet die beschwerliche Reise nach Syrien. Dass die Regisseurin Andriy Suleyman hierbei »mit der Kamera begleitet«, beschreibt den Sachverhalt nur ungenau. Die Kamera ist mehr als nur eine Begleiterin. Man vergisst in diesem Film zusehends, dass es sich um
dokumentarische Beobachtungen handelt. Die Kamera stellt eine unmittelbare Nähe her, ohne indiskret zu werden.
Auf diese Weise geht das Leiden der Menschen in einer syrischen Stadt, wo sich ein Verwandter Suleymans als Massagetherapeut um kriegsversehrte Menschen kümmert, tief unter die Haut. Dank der nuancierten Kameraarbeit und einem suggestiven Soundtrack fügt sich diese Reise zu einer vielschichtigen Erzählung. »This Rain will never stop« ist ein düsteres Requiem, in dem das Motiv des permanenten Regens sich dezent mit dem Schmerz endlos vergossener Tränen verbindet.
Nicht minder eindringlich sind die Schwarz-Weiß-Bilder der russisch-georgischen Koproduktion »Bebia, à mon seul Désir«, die mit dem Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die beste Regie ausgezeichnet wurde. In ihrem bemerkenswerten Langfilmdebüt erzählt Juja Dobrachkous von einer jungen Frau, die anlässlich eines Trauerfalls in ihr georgisches Heimatdorf zurückkehrt. Dabei wird sie mit einem archaischen Ritual konfrontiert: Vom Krankenhaus, wo ihre Großmutter starb, bis zu deren Sarg muss Ariadna (Anastasia Davidson) – nomen est omen – einen Faden spannen, der die Seele der Verstorbenen mit dem Körper wiedervereint. Auf dem 25 Kilometer langen Weg querfeldein fließen Vergangenheit und Gegenwart, Raum und Zeit, Tradition und Moderne magisch ineinander. Ein betörend schöner Film.
Der Preis für kulturelle Vielfalt ging in diesem Jahr an die tschechisch-slowakische Produktion How »I became a partisan«. Vera Lacková begibt sich auf eine menschlich anrührende filmische Spurensuche nach ihrem Urgroßvater, einem Roma-Partisanen, der gegen die Nazis Widerstand leistete. Aus den vielen sehenswerten Dokumentationen des diesjährigen goEast-Festivals wählte die »Fipresci« die österreichische Produktion »Please hold the Line« für den Preis der internationalen Filmkritik aus.
Pavel Cuzuioc beobachtet Techniker, die unter anderem in der Ukraine und in Bulgarien Telefone reparieren – und dabei jeweils in intensiven (nicht selten feuchtfröhlichen) menschlichen Austausch verwickelt werden. Eine überragend fotografierte Sammlung skurriler Vignetten.
Leider ohne Auszeichnung blieb der wohl beste Film des diesjährigen goEast-Festivals, der, wie in den vorangegangenen Jahren auch, aus einem baltischen Land kam. Šarūnas Bartas visuell überragend inszeniertes Partisanendrama »In der Dämmerung« erzählt von den »Waldbrüdern«, einer Gruppe von litauischen Partisanen, die Mitte der 40er Jahre mit ihrem bürgerlich-religiösen Ethos gegen die menschenverachtende Bürokratie der Sowjetkommissare ankämpften.
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