DOK.fest München 2021
»To The Moon« (2020)
Zum zweiten Mal fand das DOK.fest München online statt und gab sich den Beinamen @home. Am Ende des enorm vielseitigen Festivals gab es dann aber doch noch: echtes Kino
Die Wochen vor dem Festival waren geprägt von Diskussionen um Authentizität und Inszenierung im Dokumentarfilm, um Fake, künstlerische Freiheiten und den Druck der Produktionsverhältnisse. »Lovemobil«, im Jahr zuvor auch auf dem DOK.fest gezeigt, hatte die Branche aufgewühlt. Und so konnte der diesjährige Eröffnungsfilm wie ein Kommentar zur Debatte erscheinen, auf formaler wie auf thematischer Ebene: »Hinter den Schlagzeilen« von Daniel Sager porträtiert mit nüchternem, genauem Blick die Arbeit der beiden investigativen SZ-Journalisten Bastian Obermayer und Frederik Obermaier – und wurde auf diese Weise ganz zufällig zum Begleiter einer der folgenreichsten Enthüllungen der vergangenen Jahre. Als der SZ das Video eines feuchtfröhlichen Abends auf Ibiza zugespielt wird, bedeutet das für die Journalisten zunächst einmal Schwerstarbeit. Vor der Veröffentlichung, vor dem großen politischen Knall gilt es zu verifizieren, forensisch zu untersuchen, eine Veröffentlichung juristisch und ethisch abzuwägen. Sagers Film bietet faszinierende Einblicke in diese Arbeit, die ganz der Wahrheit verpflichtet ist.
Auch die Preisträger dieses Jahrgangs waren überwiegend Filme, die sich einer nüchternen und authentischen Darstellung verschrieben haben, oft mit besonderer Empathie für Ausgegrenzte und Unterrepräsentierte: So begleitet Hauptpreisträger Anny von Helena Třeštíková, der auch die diesjährige Hommage gewidmet war, in einer Langzeitbeobachtung den Lebensweg einer Sexarbeiterin in Prag. Der Gewinner im deutschen Wettbewerb, »Zuhurs Töchter« von Laurentia Genske und Robin Humboldt, porträtiert sehr einfühlsam zwei junge Trans-Schwestern aus Syrien und ihren alltäglichen Kampf darum, so akzeptiert zu werden, wie sie sind, in der Familie wie auch in der deutschen Gesellschaft. Auch »Things We Dare Not Do«, Gewinner in der Sektion Horizonte, beschäftigt sich mit dem Thema Transgender: Im Mittelpunkt steht eine junge Transfrau in der mexikanischen Provinz.
Abseits von »reiner Beobachtung« hatten die ästhetisch anspruchsvollsten Werke des Festivals ihr Spielfeld: wunderbare filmische Essays wie »To the Moon«, eine traumhafte Collage aus Found-Footage-Elementen, überwiegend älteren Spielfilmszenen, in denen es um den Mond und seinen Einfluss auf die Erde und den Menschen geht, oder Holgut, der in Bildern voll nuancenreicher Dunkelheit von der Weite Jakutiens erzählt, von erfolglosen Jägern heute und den mythischen Mammuts der Urzeit, deren Relikte der tauende Permafrostboden nun wieder ausspuckt.
Spielt dieses Werk subtil mit den Übergängen zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem, provoziert der finnische Beitrag »Lost Boys« unablässig mit unangenehmen Fragen, auch nach der Authentizität dessen, was er da zeigt. Joonas Neuvonen, der bereits 2010 in »Reindeerspotting« seine Junkieclique porträtiert hatte, begibt sich hier mit zwei Freunden auf einen Partytrip nach Bangkok und Phnom Penh, inklusive jeder Menge harter Drogen und Prostituierter. Als seine Freunde später spurlos verschwinden, macht sich Joonas auf die Suche nach ihnen und taucht ein in die Welt der Spielhöllen und Bordelle, der Slums und billigen Absteigen. »Lost Boys« funktioniert dabei wie ein schmutziger kleiner Thriller, zwingt den Betrachter aber ständig dazu, eine – moralische? – Haltung einzunehmen zu all dem Finsteren, Traurigen und Abstoßenden, was er da sieht und hört, und zu der Art, wie es gezeigt wird. Darüber hinaus jedoch ist er eine eigenwillige Reflexion auf Sex- und Drogentourismus als moderne Form des Kolonialismus.
Ein spannender Hybrid aus Dokumentarfilm und Inszenierung, dabei jedoch jederzeit transparent, ist »The Case You« von Alison Kuhn, ausgezeichnet mit dem Student Award. Darin rekonstruieren fünf junge Frauen in Re-Enactments sowie in Gesprächen die sexuellen Übergriffe, denen sie selbst ausgesetzt waren, als sie 2015 an einem großen Film-Casting teilnahmen. Der nicht ganz unbekannte Regisseur des Projekts bleibt dabei ohne Namen, und doch macht »The Case You« auf so beklemmende wie lehrreiche Weise nachvollziehbar, wie leicht gerade in Film und Theater Grenzen überschritten werden können.
Am Ende von zweieinhalb Wochen Online-Festival mit etwa 71 000 Zuschauer*innen @home, durfte zum Schluss des Festivals dann doch noch die große Leinwand bespielt werden: In den drei Münchner Partnerkinos lief der Gewinnerfilm des kinokino-Publikumspreises, die berührende dänische Produktion »He's My Brother« über die Welt eines 30-Jährigen, der weder hören noch sehen kann.
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