goEast 2020
»Rounds« (2019)
In diesem Jahr fand das dem mittel- und osteuropäischen Film gewidmete Wiesbadener goEast-Festival dreimal statt: ausschließlich online zum traditionellen Termin im Mai, als Symposium mit Publikum im Juli – und jetzt im November im Kino
Eine Leiche kurz vor Dienstschluss? Das hat den beiden Polizisten, die die Nacht über in Sofia auf Streife waren, gerade noch gefehlt. Rasch wird der Drogenabhängige, der sich offenbar den goldenen Schuss setzte, auf die andere Seite der Bahngleise geschleift. Damit fällt er in den Zuständigkeitsbereich der Kollegen. Sollen die doch den lästigen Papierkram erledigen. Mit dieser grimmig-skurrilen Szene, die, man ahnt es, eine Reihe weiterer Umbettungen des Leichnams zur Folge hat, beginnt Stephan Komandarevs »Rounds«. Der düstere Polizeifilm gewann im Mai den Hauptpreis des Wiesbadener goEast-Festivals. Aufgrund der Corona-Bestimmungen wurde er aber damals – ebenso wie jene über hundert weiteren Produktionen, die das Festival anlässlich seines zwanzigjährigen Bestehens ausgewählt hatte – nur online präsentiert. Nun wird der goEast-Wettbewerb auf dem Wiesbadener Exground-Festival gezeigt.
Für Komandarevs »Rounds« ist die große Leinwand ein Gewinn. Das episodische Drama überzeugt durch seine glasklare visuelle Struktur. In seinem fünften Spielfilm begleitet der bulgarische Regisseur, der mit Simeon Ventsislavov auch das Buch verfasste, drei Polizeistreifen durch die nächtliche Metropole. Dabei geraten die Gesetzeshüter in höchst unterschiedliche, teils skurrile Extremsituationen, die ihnen einiges abverlangen.
Ein aufgebrachter Ehemann streitet mit seiner Frau und droht, sich mit Benzin zu übergießen. Ein Teenager wird unterdessen von Neonazis halb tot geschlagen. Und in dem dementen älteren Herrn, der orientierungslos durch die Nacht irrt, erkennt einer der Polizisten seinen Exlehrer. Wohin mit ihm? Ins Seniorenheim, wo Alte nachts wie Tiere ans Bett gebunden werden? Lieber hilft der Polizist dem Alten beim Suizid.
Mit solchen Short Cuts lotet Komandarev Grenzen aus. Den roten Faden, der sich durch sein grimmiges Sittenbild einer postsozialistischen Gesellschaft zieht, bildet der Themenkomplex Verfall, Korruption und Tod. So stellen die Beamten in der Schlüsselszene drei verwahrloste Friedhofdiebe, die Metallbuchstaben von Grabsteinen abmontieren. Die Polizisten lassen Gnade vor Recht ergehen, verdonnern die drei schrägen Vögel aber dazu, die Ruhe der Toten wiederherzustellen. Bei ihrer Rückkehr im Morgengrauen stockt den Polizisten der Atem. Mit diesem Schlussbild, das auf sprechende Weise nicht sprechend ist, gelingt Komandarev eine allegorische Zusammenfassung jener Diagnosen, die er in seiner ereignisreichen Fahrt durch das nächtliche Sofia stellte.
Den Preis für die beste Regie erhielt »Nova Lituania«. Karolis Kaupinis' Debüt erzählt von einem Politiker, der 1938 angesichts der drohenden Kriegsgefahr eine akribische Logistik über die Umsiedelung der litauischen Bevölkerung nach Madagaskar erstellt. Gefilmt in atmosphärischem Schwarz-Weiß, lotet der Film die Grenze zwischen Historiendrama und Groteske neu aus.
Mit dem Preis des Auswärtigen Amtes für Kulturelle Vielfalt wurde »Immortal« ausgezeichnet. Ksenia Okhapkina streift mit der Kamera durch die russische Stadt Apatiti, in der sich während des Sozialismus ein Gulag befand. In ihrem Dokumentarfilm verschmelzen Beobachtungen einer martialischen Rekrutenausbildung mit Szenen einer zartgliedrigen Ballettinszenierung und winterlichen Industriebildern zu einem hypnotisch-poetischen Bilderfluss. Eine Entdeckung.
Ein nicht minder verblüffendes Seherlebnis gelingt Ivana Mladenović, deren Film »Ivana the Terrible« von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht wurde. Die serbische Regisseurin verkörpert sich selbst als querulatorische Schauspielerin, deren Eltern ihre permanent wechselnden Launen aushalten müssen. Die Grenze zwischen inszenierter Spielhandlung und dokumentarischer Authentizität verschwimmt dabei auf amüsante Weise. »Ivana the Terrible« ist auf eine düstere Art komisch und auf komische Art düster. Es ist kein Feelgoodmovie, doch die findet man auf goEast ohnehin eher selten. Für dieses Genre sind andere zuständig.
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