Venedig: Dies ist kein Witz: Goldener Löwe für »Joker«
»Joker« (2019). © Warner Bros. Pictures
Die Pointe kam überraschend: Damit, dass Todd Phillips' Film »Joker« den Goldenen Löwen des 76. Filmfestivals von Venedig gewinnen könnte, hatte niemand gerechnet. Zwar war die Neuinterpretation des Superhelden-Genres durch den »Hangover«-Regisseur am Lido ausgesprochen gut angekommen; der Film, der mit Joaquin Phoenix in der Titelrolle die Herkunftsgeschichte des nihilistischen »Batman«-Antagonisten mit dem Clownsgesicht erzählt, löste stürmische Beifallsovationen vor Ort und entsprechend heftige Auseinandersetzungen in den sozialen Medien aus.
Den einen war er eine Offenbarung, der in seiner Geschichte über einen unglücklichen, weißen jungen Mann, der zum bejubelten Attentäter wird, die unübersichtlichen Strömungen der Gegenwart auf den Punkt bringt. Den anderen galt er als Symptom genau dieser Unübersichtlichkeit: als Film, der mit seinem ressentiment-geladenen Helden jene »Incels« feiert, die in Verblendung gegen wie auch immer definierte »Andere« ausschlagen. Obwohl genau dieser Spannungsbogen aus »Joker« den vielleicht meist diskutierten Film des Festivals machte, schlug die Entscheidung der Jury unter dem Vorsitz der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel als große Schlussüberraschung ein.
Hat nun das Superhelden-Genre auch noch die letzte Domäne des Arthouse-Kinos, die europäischen Filmfestivals erobert? Wenn diese 76. Ausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt etwas zeigte, dann, dass Filme eben stets mehr sind als das, was man vorher über sie zu wissen glaubt. So gehört »Joker« bei genauerer Betrachtung genauso zweifelsfrei zum Arthouse-Genre wie »Taxi Driver« und »King of Comedy« von Martin Scorsese, die zwei Filme, auf die Todd Phillips' Film am deutlichsten Bezug nimmt. Phillips gelingt es, den Superheldenstoff von all seinen pubertären Genre-Kaprizen zu befreien und auf diese Weise sichtbar zu machen, was er über unsere Gegenwart erzählt. Der Film handle mehr von der Bösartigkeit eines Systems als eines Einzelnen, so begründete auch Lucrecia Martel die Wahl der Jury.
Das Staunen über die Entscheidung für »Joker« hatte zudem den Nebeneffekt, dass eine andere, viel umstrittenere, von ihr in den Schatten gestellt wurde: Ging doch der Grand Prix, gewissermaßen die Silbermedaille des Festivals, an »J'accuse« von Roman Polanski und damit an jenen Wettbewerbsbeitrag, der schon seit der Programmankündigung für Konfliktstoff sorgte. Die Preisverleihung bildete hier live ein Stück Gegenwartsdiskurs ab – im Widerstreit um die Frage, wie man mit einer Figur wie Polanski umgeht, der sich vor 42 Jahren der Vergewaltigung einer Minderjährigen schuldig machte und noch immer der Strafverfolgung in den USA entzieht.
Sein Film über die Dreyfus-Affäre kommt als effektvoll erzählte und wichtige Geschichtslektion daher und war ausgesprochen positiv aufgenommen worden. Die Auszeichnung reflektierte beispielhaft das Ringen darum, Person und Werk zu trennen, letzteres anzuerkennen ohne die Tat des Mannes zu rechtfertigen.
Wie überhaupt die Auswahl der Preisträger in Venedig in diesem Jahr ein ausgesprochen waches Gespür für die widersprüchlichen und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringenden aktuellen Konflikte bewies. Der Schwede Roy Andersson, für seine groteske Szenensammlung »About Endlessness« als bester Regisseur ausgezeichnet, kommt in diesem Zusammenhang durchaus als eine Art Goya des Gegenwartskinos daher. Und der Italiener Luca Marinelli, der für die Verkörperung der Titelrolle in Pietro Marcellos Jack-London-Verfilmung »Martin Eden« den Preis für den besten Schauspieler erhielt, wechselte in seiner Dankesrede so atemlos wie geschickt vom Seemannsberuf seiner Figur zum Solidaritätsaufruf mit allen, die heute im Mittelmeer Flüchtende retten.
Auch die Französin Ariane Ascaride, die im Film »Gloria Mundi« ihres Ehemanns, des französischen Altlinken Robert Guédiguian, eine Putzfrau in sozialer Not spielt, widmete ihren Preis den Flüchtenden, »die am Grund des Mittelmeers schlafen«. Wobei beide Filme, sowohl »Martin Eden« als auch »Gloria Mundi«, sich dadurch hervorhoben, dass sie keinesfalls einfache politische Standpunkte beziehen, sondern sowohl die klassisch linken wie auch die orthodox rechten Standpunkte in Frage stellen.
In dieser Linie einer Betrachtung, die Widersprüche aushalten will, steht auch der Drehbuch-Preis für den chinesische Regisseur Yonfan und seinen Animationsfilm »Nr. 7, Cherry Lane«. Auf den ersten Blick eine nostalgische Hommage an seine Heimatstadt Hongkong, bietet der Film eine großartige Reflexionsfläche für die aktuellen Proteste, auf die der Regisseur in seiner Dankesrede explizit Bezug nahm.
Wie aktuell und lebendig das Weltkino sich auf dem ältesten Filmfestival immer noch präsentiert, davon zeugten vor allem auch die Preise der Nebensektionen. Dort wurde etwa das visuell beeindruckende futuristische Nachkriegsdrama »Atlantis« des Ukrainers Valentyn Vasyanovych (Hauptpreis der Nebensektion »Orizzonti«) ausgezeichnet, oder der Virtual-Reality-Film »Daughters of Chibok« aus Nigeria oder das sudanesische Erstlingswerk »You Will Die at 20«. Filme, die nicht zuletzt technisch Belege dafür sind, dass auch weit ab von Hollywood und Superhelden modernes Kino gemacht wird.
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