Venedig: Jetzt lacht keiner mehr
»Joker« (2019). © Warner Bros. Pictures
Triumph der »schlechten Männer«? Das 76. Filmfestival von Venedig bejubelt den »Joker«, lobt Roman Polanskis neuen Film, »J'accuse«, und folgt mit Filmen über Mikhail Khodorkovsky und Yanis Varoufakis zwei nicht ganz zuverlässigen Erzählern
Ein Superheldenfilm im Wettbewerb des ältesten Filmfestivals der Welt? Als bekannt wurde, dass Todd Philipps »Joker« in Venedig nicht nur seine Premiere haben würde, sondern mit um die Goldenen Löwen konkurriert, löste das vielerorts Befremden aus. Zumal Todd Phillips sich als Regisseur der »Hangover«-Serie eher einen Namen als Spezialist für groben Männerhumor denn als Arthouse-Filmer gemacht hatte. Als sicher galt einzig, dass Joaquin Phoenix in der Titelrolle etwas Bemerkenswertes liefern würde.
Und in der Tat: Phoenix enttäuscht nicht. Aber es liegt längst nicht allein an ihm und seiner Schauspielkunst, dass »Joker« sich zur Sensation des Festivals entwickelt hat. Vielmehr ist Todd Philipps ein Film gelungen, der auf eine Weise zur Gegenwart spricht, die das Publikum in Venedig förmlich von den Sitzen riss und die Kritik zu Aussagen hinriss wie »Superheldenfilme werden danach nie mehr das Gleiche sein«.
Die Vorhersage mag etwas zu hoch gegriffen sein – ähnlich wie die, dass die Jury unter dem Vorsitz der Argentinierin Lucrecia Martel »Joker« den Goldenen Löwen geben könnte –, zumal die wesentliche Strategie von »Joker« gerade darin besteht, den Superhelden-Film seiner Genre-Elemente völlig zu entkleiden. »Joker« erzählt zwar eine »Ursprungsgeschichte« für einen der berühmtesten Bösewichte des DC-Comic-Universums, spielt im bekannten, fiktiven Gotham City und verwendet vertraute Namen wie Thomas und Bruce Wayne, aber es ist zugleich eine Welt ganz ohne Superkräfte, dafür mit müden Sozialarbeiterinnen, Kürzungen bei der Gesundheitsfürsorge und einem schlecht besuchten Comedy Club.
Der von Joaquin Phoenix gespielte Joker heißt noch Arthur Fleck, wohnt als sozial isolierter Mann bei seiner alternder Mutter und träumt von einer Karriere als Stand-up-Comedian. »Wenn ich früher erzählt habe, ich wolle Komiker werden, haben alle immer gelacht; wenn ich jetzt auf der Bühne stehe, lacht keiner mehr!« Das ist sein bester Witz.
Wie aus dieser traurigen Gestalt mit mentalen Problemen der reuelos mordende Joker wird – das erzählt der Film als Geschichte einer Verkettung von unglücklichen Umständen, die im Takt mit Entwicklungen der Gegenwart, wie wir sie kennen, eine unheilvolle Dynamik entwickelt. Wachsende Ungleichheit, Fremdenfeindlichkeit, Straßen-Aggressionen. Es ist diese wohl kalkulierte Kombination, die den Film so verstörend macht: Phoenix' Joker wird nicht zu der Sorte Antiheld, dessen Missetaten man schließlich bewundert oder gar als verdiente Rache bejubelt. Nein, Arthur Fleck bleibt auch als Joker ein armer Wurm, und wenn seine Taten bejubelt werden, dann, weil die sich unterdrückt fühlenden Bewohner von Gotham sie missverstehen.
Dass Phillips dies in seinem Film so klar auseinanderhält, und die Empathie für den gestörten, traumatisierten Mann mit dem Gutheißen seiner Gewalttaten nicht verwechselt – das lässt den Film völlig neu erschienen. »Joker« schließt zwar an den kalten Nihilismus von Heath Ledgers Auftritt in Christopher Nolans »Dark Knight« an, hat zugleich aber mehr gemeinsam mit der depressiven Präzision der Milieu- und Männerporträts der Scorsese-Filme »Taxi Driver« und »King of Comedy«. Dass ausgerechnet Robert De Niro in »Joker« als Idol und Gegenspieler von Arthur Fleck auftritt, ist weniger ein »guter Witz« als eine düstere Referenz, die zugleich den Ernst des Films bezeugt.
Düstere Referenzen und Polemiken begleiteten auch die Premiere von Roman Polanskis »J'accuse«. Doch die implizite Herausforderung an Publikum und Kritik, vom Schöpfer ab und nur auf das Werk zu sehen, ist dem Filmfestival in diesem Fall gelungen: Polanski verfilmt in »J'accuse« die Dreyfus-Affäre so effizient und fesselnd als wichtige und aktuelle Geschichtslektion, dass Beifall nicht ausbleiben konnte. Was vielen heute als bloßes Stichwort für ein unschönes Kapitel des Antisemitismus in Frankreich um 1900 im Gedächtnis ist, erhellt der Film als einen Justiz-Skandal, dessen befreiendes Ende so lange braucht, dass es sich nicht mehr wie ein wahrer Triumph anfühlte.
Nicht der mit gefälschten Beweismitteln verurteilte Dreyfus steht bei Polanski im Mittelpunkt, sondern dessen Vorgesetzter Georges Picquart, der, zufällig auf die Wahrheit gestoßen, mehr aus Pflichtgefühl denn aus Menschenfreundlichkeit für die Befreiung von Dreyfus eintrat. Mit diesem Fokus entfällt das, was manche Seiten befürchteten: dass Polanski sich hier in getarnter Form selbst als verfolgte Unschuld feiert. Wie als eine Art Treppenwitz der Historie zeigt der Film die Macht eines Geheimdienstes, der schon in seiner analogen, frühen Form kaum weniger übergriffig als die heutigen hochtechnisierten Schwester-Organisationen agierte.
»J'accuse« bildete den Auftakt einer ganzen Reihe von Filmen über wahre Geschichten, die dabei interessanter Weise sämtlich weniger aktuell wirkten als die entrückte Comicbook-Welt des Jokers. Sei es Alex Gibneys dokumentarische Rekonstruktion der Wildwest-Jahre des russischen Kapitalismus mit Mikhail Khodorkovsky als sich vom Bösewicht zum Märtyrer wandelnden Helden, »Citizen K«, oder Costa-Gavras Rekonstruktion der Griechenland-Finanzkrise mit Yanis Varoufakis als vermeintlichen Retter der Entrechteten, »Adults in the Room«: Es zeigt sich, dass wahre Geschichten doch nicht immer den richtigen Filmstoff abgeben, selbst mit faszinierenden unzuverlässigen Erzählern im Mittelpunkt.
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