73. Filmfestival Venedig: Alles ist möglich
»The Woman Who Left« (2016). © Grandfilm
73. Filmfestival Venedig: Von Schwarz-Weiß über 3D bis zu Virtual Reality – das Kino zeigte sich dieses Jahr am Lido in nie dagwesener Vielfalt der Formen, Farben und Genres. Ob das ein Anzeichen von Freiheit oder von Beliebigkeit ist, muss sich erst noch herausstellen
Alle Filme sind gleich, aber manche sind gleicher als andere« – mit diesem George-Orwell-Zitat eröffnete Jury-Präsident Sam Mendes die Preisverleihung am Ende des Festivals. Er wollte damit der »Qual der Wahl« Ausdruck verleihen, der sich seine Jury bei der Bestimmung des Goldenen Löwen ausgesetzt sah. Aber es hätte auch ein fast sarkastischer Kommentar sein können darauf, dass die Filme im diesjährigen Programm der »Mostra« in Wahrheit so »ungleich« wie selten waren.
Nicht nur dass einmal mehr Dokumentarfilme (darunter einer von Terrence Malick im »National Geographic«-Stil) mit Spielfilmen konkurrierten, es gab auch Western (Brimstone, The Bad Batch), Horror (The Untamed), Science-Fiction (The Arrival) und ein Musical (La La Land), mithin mehr Genrekino als sonst üblich. Und dazu noch zwei Filme (der italienische »Piuma« und der argentinische »El ciudadano illustre«), in denen gelacht werden durfte. Damit nicht genug, waren auch alle denkbaren »Formate« vorhanden: Drei (!) Schwarz-Weiß-Filme (Frantz, Paradies, The Woman Who Left) im Wettbewerb lösten die Frage aus, ob das nun einen Trend markiert, während Wim Wenders’ Einsatz von 3D in »Les beaux jours d’Aranjuez« eher vom Ende eines solchen zeugte. Im Rahmenprogramm des Festivals gab es dazu noch die kühne Kombination aus 3D, Schwarz-Weiß und Dokumentation (Andrew Dominics »One More Time With Feeling« mit Nick Cave), die ersten zwei Folgen einer »Hochglanz«-Fernsehserie (Paolo Sorrentinos »The Young Pope«) und, last not least, Ausschnitte aus »Jesus VR – The Story of Christ«, dem ersten Langspielfilm im 360-Grad-Virtual-Reality-Format. Klar war angesichts dieser Fülle von Formen, Farben und Themen nur eines: dass die Freiheit im Kino noch nie so groß war.
Wie mögen die Diskussionen verlaufen sein in einer Jury, die den Goldenen Löwen einem Film wie Lav Diaz’ »The Woman Who Left« und den Grand Prix, die »Silbermedaillie«, einem Film wie Tom Fords »Nocturnal Animals« verleiht? Das eine ist ein knapp vierstündiges, die Geduld des Zuschauers forderndes Drama, das Motive einer Tolstoi-Erzählung aus dem 19. Jahrhundert um Verbrechen, Rache und Erlösung in die philippinische Gesellschaft der 90er Jahre adaptiert. Das andere ein unterhaltsamer, raffinierter amerikanischer Psychothriller, der in der Hochglanzwelt reicher Kunsthändler in Los Angeles spielt. Man ist versucht, die Entscheidung, den Goldenen Löwen an The Woman Who Left zu verleihen, als Signal zu sehen für ein Kino, das sich der kommerziellen Auswertung verweigert und dafür auf Authentizität und künstlerische Eigenart besteht. Als Appell dafür, diesem »anderen Kino« mehr Raum zu geben, schließlich wurden die Filme des inzwischen zum Kultphänomen aufgestiegenen Lav Diaz in Deutschland bislang nur im Kontext von Filmfestivals gezeigt – sein Achtstünder »A Lullaby to the Sorrowful Mystery« lief im Wettbewerb der Berlinale. Auf der anderen Seite kann sich Diaz, der 2014 unter anderem den Goldenen Leoparden in Locarno und auf der Berlinale den Fritz-Bauer-Preis erhielt, über mangelnde Auszeichnungen nicht beklagen.
Die vermeintlich radikale Entscheidung für Diaz mit der Vergabe des Grand Prix an den ehemaligen Modemacher Tom Ford und seinen Thriller »Nocturnal Animals« zu kontern, liest sich in diesem Zusammenhang wie ein Zugeständnis ans kommerzielle Arthouse-Kino: Statt Schwarz-Weiß in Farbe, statt langer Einstellungen schnelle Schnitte, statt »Natürlichkeit« und »Authentizität« Hollywoodschauspieler wie Amy Adams und Jake Gyllenhaal, die mit Star-Aura das Publikum bannen – in der Filmsprache könnte es kaum einen größeren Gegensatz geben als den zwischen »Nocturnal Animals« und »The Woman Who Left«. Die Andersartigkeit der Form überdeckt paradoxerweise die tiefe thematische Verwandtschaft der beiden Filme: Auch im Thriller von Tom Ford geht es um Rache, Vergebung und den langen Schatten der Vergangenheit. Doch wo Diaz seine von Tolstoi inspirierte Geschichte zwar in die philippinische Gesellschaft überträgt, dabei aber den Tolstoi’schen Gestus bewahrt, der sich der »Erniedrigten und Beleidigten« annimmt, stellt Ford seine von Eitelkeit und Ehrgeiz beherrschten Figuren aus, ganz ohne Mitgefühl vom Zuschauer zu fordern.
Das Signal, das vom Festival in Venedig in diesem Jahr ausgeht, scheint zu lauten: Alles ist möglich; es gibt keine Verbindlichkeit der Form mehr, ob Schwarz-Weiß oder 3D, ob Western oder Naturdokumentation, Gesellschaftssatire oder Konzentrationslagerdrama – jeder Film sucht sich seinen eigenen Kanon, sein eigenes Format.
Die Distanz, die dabei von Film zu Film überwunden werden muss, wird immer größer, was die weitere Nischenbildung im Publikum befördert. So können die einen etwas anfangen mit »The Untamed«, dem mit Horror- und Science-Fiction-Elementen versetzte Sexthriller des jungen mexikanischen Regisseurs Amat Escalante, während andere geistige Nahrung finden im strengen Konzentrationslagerdrama »Paradies« des Russen Andrei Konchalovsky. Dass der 37-jährige Mexikaner sich mit dem 79-jährigen Russen schließlich den Regie-Preis teilte, erscheint wahrscheinlich beiden Seiten gleichermaßen ungerecht.
Der Fall von Escalante liegt dabei ähnlich wie der von Ana Lily Amirpour, deren dystopischer Western »The Bad Batch« den Spezialpreis bekam: Die iranisch-amerikanische Regisseurin hat sich mit ihrem Erstling »A Girl Walks Home Alone at Night« einen Namen und das Unterlaufen von Erwartungen zum Programm gemacht. Dass »The Bad Batch« die in sie gesetzten Erwartungen nicht ganz einlösen konnte, war weniger wichtig als das Dabeisein als solches.
In jedem Fall belegte das Festival indirekt, dass ihr als Regisseurin heute mehr Ausdrucksmöglichkeiten offenstehen als noch einer Präsidentengattin in den 60er Jahren. Deren Rollenzwänge am Beispiel von Jacqueline Kennedy bringt der chilenische Regisseur Pablo Larraín in seinem Biopic »Jackie« oscarträchtig auf den Punkt. Für das Drehbuch, das die Tage rund um das Attentat auf John F. Kennedy nachstellt, wurde Noah Oppenheim ausgezeichnet, obwohl es Natalie Portmans Auftritt als Jackie ist, der dem Film sein eigentliches Gewicht verleiht. Ihre zwischen Fragilität und Bestimmtheit schwankende Interpretation macht aus dem Gedankenexperiment – Was, wenn wir das Attentat auf JFK aus ihrer Sicht schildern? – eine Studie über Macht und weibliches Mediengeschick.
Doch in der Vergabe der Schauspielerpreise zeigte sich die Jury in Venedig vergleichsweise konventionell. Sie gingen an die US-Amerikanerin Emma Stone für ihren Auftritt im begeistert aufgenommenen Retro-Musical »La La Land« und an den Argentinier Oscar Martinez für seine Verkörperung eines an seinen Heimatort zurückkehrenden Literaturnobelpreisträgers im vielleicht vergnüglichsten Film des Wettbewerbs, »El ciudadano illustro«. Eine schöne Überraschung gab es dabei fürs deutsche Kino: Paula Beer, die in François Ozons Drama »Frantz« spielt, wurde zur besten Nachwuchsschauspielerin gekürt.
Wie sehr im Übrigen die Form eines Films die Interpretation bestimmt, das führte kein Werk besser vor als Sergei Loznitsas Dokumentation »Austerlitz«, der außer Konkurrenz lief. Loznitsa filmt darin in langen Einstellungen, aus Distanz, aber mit hoher Tiefenschärfe, die Besucher in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Sein Blick bleibt fixiert auf die Masse Mensch und macht den Zuschauer damit zum Beobachter zweiter Ordnung. Der Strom von sommerlich gekleideten Touristen erscheint in solcher Weise anonym beobachtet völlig gleichgültig, unwissend und sogar grausam. Doch die den Besuchern unterstellte Gleichgültigkeit fällt letztlich auf den Zuschauer zurück.
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