Recap: Cannes 2015
Goldene Palme für »Dheepan«
Entdeckungen und Enttäuschungen hielten sich die Waage, bis die Preisverleihung für das nötige Überraschungsmoment sorgte und unter der Dominanz der privaten Dramen politische Akzente setzte
Es ging in diesem Jahr viel um die elementaren Dinge des Lebens. Um unglückliche Lieben, schreckliche Todesfälle, den Schmerz des Alterns und um Familien, die nicht miteinander kommunizieren. In den besten Filmen im Wettbewerb des 68. Filmfestivals von Cannes bildete dieser Fokus aufs Persönliche zwar nur den Ausgangspunkt, um darüber hinaus die Brüche der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Trotzdem erschien die Auswahl in der Gesamtschau thematisch so entpolitisiert wie selten. Außer den drei asiatischen Filmen spielte zudem kein Beitrag außerhalb dessen, was man gemeinhin unter »dem Westen« versteht. Und auch die Asiaten setzten den Fokus ihrer Filme aufs Persönliche vor dem Politischen. Und genau deshalb überraschte die Verleihung der Goldenen Palme an Jacques Audiards Immigranten-Drama »Dheepan« am Ende. Es war, als würde die Jury ein Zeichen gegen die Entpolitisierung setzen. Etwas, was man von der Gruppe aus vier Schauspielern (Sienna Miller, Rossy de Palma, Sophie Marceau, Jake Gyllenhaal), vier Regisseuren (die Jurypräsidenten Ethan und Joel Coen, Xavier Dolan, Guillermo del Toro) und einer Singer-Songwriterin (Rokia Traoré) nicht unbedingt erwartet hätte. Wie überhaupt die Preisverleihung mehrfach belegte, dass Politik in der einen oder anderen Form immer eine Rolle spielt.
In »Dheepan« erzählt Jacques Audiard von drei Flüchtlingen aus Sri Lanka, einem Mann, einer Frau und einem Mädchen, die sich als Familie ausgeben, um mit falschen Pässen nach Frankreich einreisen zu können. Dort finden sie einen so vorläufigen wie prekären Lebensfrieden in einer von Drogendealern beherrschten Pariser Banlieue. Für die Darstellung dieses Milieus, das nicht zuletzt seit dem Attentat auf »Charlie Hebdo« in Frankreich erneut zu einem diffizilen Thema geworden ist, musste Audiard auch viel Kritik einstecken. Was seinen Film – außer seinem Fokus auf außereuropäische Figuren – aus dem diesjährigen Programm herausragen ließ, ist das genuine Interesse für seine ungewöhnlichen Helden. Ohne sie auf die üblichen Klischees der Bedürftigkeit zu reduzieren, zeigt »Dheepan« seine Ad-hoc-Familie als Zusammensetzung komplizierter, widersprüchlicher Charaktere, die ihrer neuen Umgebung mit pragmatischer Skepsis begegnen und mit ihren angenommenen Identitäten durchaus zu spielen wissen.
Auch der Grand Prix, sozusagen die Silbermedaille des Festivals von Cannes, ging an einen Helden der etwas anderen Art, nämlich an das Holocaust-Drama des ungarischen Regiedebütanten László Nemes »Son of Saul«. Der Film, der in die Hölle des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahr 1944 führt, löste Kontroversen über die Darstellbarkeit des Holocaust aus. Wobei sich die Mehrheit des Publikums in Cannes schlicht ergriffen zeigte von der Intensität dieses Blicks auf einen jüdischen Häftling, der als Mitglied des Sonderkommandos zur Arbeit in und um die Gaskammer verdammt ist. Mit hoher Konzentration folgt die Kamera der so verschlossenen wie leidgeprüften Figur, während die Details des horrenden Geschehens, die Leichenberge, die Misshandlungen, die kalte Bürokratisierung des Tötens wie im Vorübergehen, als verschwommener Hintergrund, auftauchen. Dass Nemes damit gleichsam den Holocaust in den Hintergrund rücke, wie einige Kritiker befanden, kommt allerdings einem absichtlichen Missverstehen gleich. Und während die einen Claude Lanzmann und seinen »Flammenkreis« anführten, der Nachinszenierungen des Holocaust unmöglich mache, twitterte Thierry Frémaux demonstrativ ein Bild, in dem Nemes und Lanzmann einträchtig nebeneinander stehen. »Son of Saul« sei der Anti-Schindlers Liste, ließ Lanzmann später verlauten. Aber egal, wie man zu Nemes’ Film steht: Die Diskussion um Darstellungsweisen ist als längst wieder mal fällig zu begrüßen.
Interessanterweise würdigte die Jury mit dem Schauspielerpreis für Vincent Lindon einen weiteren Helden fernab jeder Hollywoodglanzwelt. Lindon verkörpert in »La loi du marché« einen älteren Arbeitslosen, der in der Realität von Sozialstaat und Wirtschaftskrise sowohl um den Lebensunterhalt als auch um seine Würde kämpft. Der 55-jährige Franzose, der auch in Deutschland als Publikumsliebling für kleinere Filme (»Mademoiselle Chambon«) gilt, brachte mit seiner gleichzeitig gefassten und gerührten Dankesrede (»Ich habe noch nie einen Preis gewonnen«) auch die Männer im Palais an der Croisette zum Weinen.
»Wir sind eine Jury von Künstlern, nicht von Kritikern«, so rechtfertigten die Coen-Brüder im Anschluss an die Preisverleihung ihre Entscheidungen. Kritik löste vor allem aus, dass einer der größten Favoriten des Festivals, »Carol« vom amerikanischen Independent-Regisseur Todd Haynes, nur mit einem halben Preis bedacht wurde: Hauptdarstellerin Rooney Mara musste sich den Preis mit der Französin Emmanuelle Bercot teilen, die im allgemein geschmähten Film Mon roi spielte. Dafür gilt »Carol«, ein Film, der sein Drama über Gefühle, die nicht sein dürfen, in makellosem Stil und Kostümbild präsentiert, schon jetzt als erster starker Anwärter auf die nächsten Oscars.
Der Preis für die beste Regie an den Taiwanesen Hou Hsiao-Hsien entsprach schon mehr dem Geschmack der Cinephilen an der Cote d’Azur. Hous Martial-Arts-Drama »The Assassin« verweigert sich radikal den Genrekonventionen, setzt stille, wie festgefrorene Momente der Schönheit dort, wo sonst Schwertschwingen die Bilder unscharf werden lässt. Ähnlich radikal, aber dabei unvermutet publikumstauglich geht auch der Grieche Yorgos Lanthimos ans Werk, der für seinen Film »The Lobster« mit dem Jury-Preis ausgezeichnet wurde. Sein internationales Starensemble von Colin Farrell über John C. Reilly bis Rachel Weisz platziert der Film in einer absurden Welt, in der kein Mensch mehr als Single leben darf. Als Satire auf moderne Liebesideale und untergründige Kritik an jeder Art von Fundamentalismus gehört »The Lobster« zu den großen Entdeckungen des diesjährigen Festivals.
Während ungewöhnlicherweise alle drei italienischen Wettbewerbsfilme leer ausgingen, kann das französische Kino Cannes 2015 als Triumph verbuchen. Mit fünf Filmen im Wettbewerb, flankiert von Eröffnungs- und Abschlussfilm und einer Ehrenpalme an Altmeisterin Agnès Varda dominierte Frankreich in diesem Jahr in rarer Eindeutigkeit das offizielle Programm. Auch das kann man als Ergebnis einer Politik sehen, in zweierlei Hinsicht: Einerseits müssen wohl auch die Festivalmacher von Cannes sich gegenüber ihren nationalen Geldgebern rechtfertigen. Andererseits gilt, dass das französische Kino seine Stärke einer sehr national gesinnten Förderpolitik verdankt. Zugängliche Schauspielerfilme zu machen über alltägliche Helden, die, ohne abgehoben zu sein, weniger klischeebeladen sind als Hollywoods Formelkino, das kann das französische Kino eben besonders gut, wie ja auch die anhaltenden Erfolge auf dem deutschen Markt belegen.
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