Der Skandal findet nicht statt
Der amerikanische Regisseur Abel Ferrara stellt auf dem 71. Filmfestival von Venedig seinen Film Pasolini vor – und zur allgemeinen Überraschung regt sich niemand auf
Einen Skandal auszulösen sei ein Recht, einen zu erleben eine Lust, hat der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini einst formuliert. Der Regisseur von Filmen wie Die 120 Tage von Sodom wusste, wovon er sprach. Auch für den 63-jährigen amerikanischen Regisseur Abel Ferrara (Bad Lieutenant) ist die Lust am Skandal sicher kein fremder Gedanke. Erst im Mai sorgte Ferrara auf dem Filmfestival in Cannes mit Welcome to New York für Aufregung, einem Film über Dominique Strauss-Kahn, in dem Gérard Depardieu dessen Sexsucht nachstellte. Nun zeigte er auf dem Filmfestival in Venedig mit Pasolini bereits sein nächstes Werk und der Skandal schien gewissermaßen vorprogrammiert. Schließlich war angekündigt, dass Ferrara unter anderem den bis heute nicht ganz geklärten Mord an dem italienischen Regisseur im Jahr 1975 thematisieren würde. Doch es kam mal wieder ganz anders: Der Skandal fand nicht statt. Dafür gab es eine andere Überraschung: Tatsächlich ist Ferrara mit seinem Film eine respektvolle Hommage an Pasolini gelungen, die weniger zuspitzt als versöhnt – und in Venedig mit entsprechendem Applaus begrüßt wurde.
Pasolini zeichnet die letzten 24 Stunden im Leben des großen Regisseurs nach, ein Leben, durch das starke Trennlinien verliefen. Da gab es den braven Sohn, der liebevoll seiner Mutter zugetan war, es gab den öffentlichen Polemiker, der mit scharfen Worten die moderne Konsumgesellschaft geißelte, es gab den kreativen Kopf, der im Austausch mit nahen Freunden neue Projekte ersann und es gab den Suchenden, der die nächtlichen Treffpunkte der römischen Stricher abfuhr. Ferrara lässt Pasolini in seinem Film in all diesen Rollen vorkommen. Doch zeigt er sie nicht als Sammlung von Widersprüchen, sondern als Facetten eines einzigen, komplexen Charakters. Im für Ferrara ungewohnt ruhigen und kontemplativen Stil entfaltet sich vor der Zuschauer ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben eines sehr ungewöhnlichen Menschen. Pasolini gibt Interviews, schreibt an Freunde, trifft Leute. Einzig die Schlagzeilen in den Zeitungen, die er liest, die von einer Welle der Gewalt in Italien handeln, lassen eine Vorahnung über den bevorstehenden Mord aufkommen.
Die Tat selbst schildert Ferrara völlig unskandalös in der heute gewissermaßen breit akzeptierten Fassung: als Mord durch den Stricherjungen, den Pasolini zuvor aufgelesen hatte, der aber letztlich nicht allein handelte. Über die Motive der jungen Männer, ob sie nun aus Homophobie oder im Auftrag höherer Mächte handelten, die den unbequemen Kritiker loswerden wollten, gibt auch Ferraras Film keine definitive Auskunft. Was für manche eine Enttäuschung sein mag, erleichtert es anderen zu akzeptieren, dass man die volle Wahrheit tatsächlich nie mehr erfahren wird.
Seine würdig-respektvolle Note verdankt der Film nicht zuletzt dem großartigen Hauptdarsteller Willem Dafoe, der Pasolini nicht nur äußerlich perfekt zu imitieren weiß, sondern ihm die Aura eines zwar verschlossenen, aber keineswegs mysteriösen, erwachsenen Mannes gibt, der sich und seine Fehler sehr gut kennt. Dafoe gilt damit für die Preisverleihung in Venedig als heißer Kandidat auf den Darstellerpreis, die Coppa Volpi. Mit der Verleihung des Goldenen Löwen geht am Samstagabend ein Festival zu Ende, für das die Reaktionen rund um Pasolini als symptomatisch gelten können: Es gab weniger Debatten und Aufregungen als angekündigt, dafür aber eine Reihe von Filmen, die auf stillere und vielleicht nachhaltigere Weise zum Nachdenken anregen.
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