Kritik zu X-Men: Erste Entscheidung
Was Sie schon immer über die Kuba-Krise wissen wollten, sich aber nicht zu fragen trauten: Es waren Mutanten am Werk! Matthew Vaughn rebootet mit lauter neuen Gesichtern die X-Men-Serie
Wie die meisten erfolgreichen Superhelden des Marvel-Comic-Universums (Spider-Man, Hulk, Thor, Iron Man, die Fantastic Four) sind auch die X-Men, die mit ihren Mutationen das nächste Glied der Evolutionskette darstellen, schon in den sechziger Jahren aus der Feder des Autorenpaares Stan Lee und Jack Kirby geflossen. Nach Bryan Singers gelungenen Filmadaptionen X-Men (2000) und X-Men 2 (2003) sowie den mit weniger Enthusiasmus aufgenommenen X-Men: Der letzte Widerstand (2006, Regie: Brett Ratner) und X-Men Origins: Wolverine (2009, Regie: Gavin Hood) macht sich jetzt Regisseur Matthew Vaughn mit dem Prequel X-Men: Erste Entscheidung daran, die Entstehung der Supermutantenvereinigung zu erzählen. Natürlich kann Vaughn nicht so herrlich respektlos wie in seiner zynischen Superheldensatire Kick Ass (2010) mit dem etablierten X-Men-Franchise umspringen. Ganz im Gegenteil erzählt er die tragische Geschichte von Erik Lehnsherr (Michael Fassbender), der sich im Verlauf des Films mit seinem Freund und »X-Men-Gründer « Charles Xavier (James McAvoy) überwirft und zum Oberbösewicht Magneto wird, mit gebührender Ernsthaftigkeit. Dem zugkräftigen Publikumsliebling Wolverine (Hugh Jackman), dem in brenzligen Situationen stählerne Klauen aus den Fingerknöcheln sprießen, gesteht Vaughn dabei nur einen ganz kurzen Gastauftritt zu. Auch beweist er Mut, indem er die schwergewichtigen Mimen Patrick Stewart und Ian McKellen, die in den bisherigen X-Men-Filmen als seriöse Inkarnationen von Professor Xavier und Magneto überzeugen konnten, gleich ganz aus seinem Film verbannt. Diese Tatsache ließ besorgte Fans im Vorfeld befürchten, bei X-Men: First Class (so der Originaltitel, basierend auf der gleichnamigen, auf acht Einzelhefte begrenzten Comic-Miniserie von 2006) könne es sich um einen infantilen Teeniefilm handeln.
Der kleine jüdische Junge Erik muss im Jahr 1944 in einem Konzentrationslager in Polen mitansehen, wie der diabolische Nazimutant Sebastian Shaw (Kevin Bacon spricht auch im Original herrliches Zungenbrecher- Comic-Deutsch!) seine Mutter erschießt, weil er die übermenschlichen Fähigkeiten des begabten Jungen hervorkitzeln will. Der Junge überlebt den Holocaust und will sich fortan an Shaw rächen. In der Begegnung mit dem telepathisch begabten Charles Xavier, der weitere Jugendliche mit »besonderen Fähigkeiten « um sich schart, lernt Erik, seine eigenen Talente richtig einzusetzen.
Superhelden im Kampf gegen Nazis haben in Amerika eine propagandistische Tradition. Schon auf dem Cover des 1941 erschienenen ersten Bilderheftchens von »Captain America« (die Verfilmung Captain America: The First Avenger von Joe Johnston kommt im August in die Kinos) sieht man den in Stars and Stripes gewandeten Patrioten einen gezielten Faustschlag im Gesicht von Adolf Hitler platzieren. Auch wenn deutsche Zuschauer immer noch reflexartig zusammenzucken, wenn Szenarien des Dritten Reiches relativ unbekümmert im amerikanischen Popcornkino auftauchen, muss man Regisseur Matthew Vaughn bescheinigen, dass er die unvermeidlichen Superheldentrivialitäten gekonnt in reales Zeitgeschehen einbettet. So berichtet X-Men: Erste Entscheidung mit viel Spektakel vom ersten gemeinsamen Abenteuer der noch jungen Mutantenvereinigung, der Kuba- Krise von 1962. Wir erfahren, dass es nämlich in Wirklichkeit Magneto war, der die bereits gezündeten amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Himmel ins Meer purzeln ließ und so die Welt vor dem Atomkrieg bewahrte...
Inmitten eines von sexy Superfrauen wie Mystique (Jennifer Lawrence), Angel (Zoë Kravitz) oder Emma Frost (January Jones) bevölkerten coolen 60er-Jahre-Retro-Ambientes porträtiert Michael Fassbender die innere Zerrissenheit der Figur Magneto mit vollem Ernst. Wenn er wild gestikulierend seine magnetischen Hände in die Kamera hält, um das mächtige U-Boot mit dem Naziverbecher aus den Tiefen des Meeres zu ziehen, verlagert sich immer wieder die Schärfe auf sein von Hass und Trauer zermürbtes Gesicht. Denn X-Men: Erste Entscheidung ist nicht nur ein Film über strahlende Supertypen, sondern auch über traumatisierte Superopfer.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns