Kritik zu Sunrise

Trailer OmU © Rapid Eye Movies

Ein traumatisierter Polizist ermittelt im Fall eines verschwundenen Mädchens und muss gleichzeitig die Schuld am Verschwinden seiner eigenen Tochter verarbeiten. Partho Sen-Guptas Neo-Noir-Thriller verbindet das Polizeidrama und den psychologischen Thriller

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4 (Stimmen: 1)

Die Nacht ist in Partho Sen-Guptas »Sunrise« die Schwelle zwischen Traum und Realität. Irgendwo am Rande der Nacht befindet sich der Club Paradise, zu dem es den Polizisten Joshi in seinen Visionen immer wieder hinzieht. Auf seinen Streifzügen durch die Straßen von Mumbai begegnen ihm obdachlose Kinder, die Häuserwände sind plakatiert mit Vermisstenanzeigen. Der Nachtclub scheint etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun zu haben: Auf der Bühne tanzen junge Mädchen, einige von ihnen nicht einmal volljährig, vor einem aufgeheizten männlichen Publikum. Joshi ist ein Teil dieser Menge, und doch steht er abseits, denn die Suche des Vaters gilt einem ganz bestimmten Mädchen. Ihre ausdruckslosen Gesichter, die teilnahmslosen Tanzbewegungen beobachtet er mit stummem Entsetzen. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis er das erste Mal spricht.

Partho Sen-Gupta arbeitet in »Sunrise« mit sparsamen Mitteln, die erst allmählich die Geschichte erschließen. In den halbdunklen Einstellungen kommt den Geräuschen eine besondere Bedeutung zu. Vor allem der unaufhörlich niederprasselnde Regen erzeugt eine beunruhigende Geräuschkulisse, die den Neo-Noir-Bildern eine dystopische Stimmung verleiht. Joshi, der Polizist, ist eine getriebene Figur. Er ermittelt im Fall eines verschwundenen Mädchens, doch die Erinnerungen an seine vermisste Tochter Aruna holen ihn immer wieder ein. Sen-Gupta filmt die polizeilichen Ermittlungen wie einen Horrortrip. Ein Schatten scheint Joshi zu verfolgen – ob dieser seiner Fantasie entspringt oder real ist, lässt der Regisseur im Ungewissen. Auch in den eigenen vier Wänden verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Joshis Frau Leela ist über den Verlust des Kindes nicht hinweggekommen: Abends liest sie der Tochter aus einem Buch vor, als wäre das Mädchen noch immer bei ihnen. Die wenigen Worte zwischen den Eheleuten zeugen von einem Vertrauensbruch. Leela gibt Joshi die Schuld am Verschwinden der Tochter. Ihn plagen Schuldgefühle. Umso obsessiver stürzt er sich in seine Ermittlungen, um die kleine Naina zu retten.

Sen-Gupta gelingt mit »Sunrise« eine atmosphärisch dichte Mischung aus Polizeidrama und psychologischem Thriller, der für den schwindenden Realitätssinn seines Protagonisten verstörende Bilder findet. Die nächtlichen Szenen, in denen Joshi mit gezogener Waffe den Schatten seiner Vergangenheit nachstellt, werden kontrastiert mit den Routinen der Polizeiarbeit. Die Männer sind desillusioniert angesichts der erschütternden Vermisstenwelle von jungen Mädchen (100 000 Kinder, erklärt am Ende eine Texttafel, verschwinden in Indien jährlich). Das harte Leben der Straßenkinder von Mumbai ist im Film allgegenwärtig. Vor dem Revier drückt sich der obdachlose Junge Babu herum, den Joshis Kollege wiederholt zu vertreiben versucht. Erst spät erweist sich der Junge als Schlüssel zur Aufklärung des Falles. Aber um ein klassisches »procedural« geht es Sen-Gupta nicht. Er interessiert sich vor allem für das Innenleben seiner Hauptfigur – und das Schicksal der entführten Mädchen. 

Der zweite Handlungsstrang des Films dreht sich um Naina in den Händen der herrischen Madam Radhabai. Im Nachtclub, in dem Naina festgehalten wird, bereiten sie die anderen Mädchen schon kurz nach ihrer Ankunft auf ihre Aufgaben vor. Die junge Komal nimmt sich des Neuankömmlings an. Sen-Gupta beschreibt die Freundschaft der Mädchen mit ähnlich zurückhaltenden Gesten wie den fragilen Geisteszustand Joshis. In einer frühen Szene des Films, während einer Durchsuchung des Clubs, kreuzen sich für einen Augenblick die Wege der beiden, doch Naina muss durch einen Spalt in der Wand hilflos mit ansehen, wie die Polizei ohne Beweise wieder abzieht. Wie bravourös »Sunrise« in solchen Suspense-Momenten die Geschichten seiner Hauptfiguren, Opfer desselben Verbrechens, zusammenführt und ihre Schicksale ineinander spiegelt, etabliert Sen-Gupta nicht nur als hoffnungsvollen Genrefilmer im Weltkino, sondern zeichnet ihn auch als Regisseur mit einem ausgeprägten sozialen Bewusstsein aus.

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