Kritik zu Sorry We Missed You
Ken Loach nimmt sich in seinem neuen Film der »Gig Economy« an und demonstriert am Beispiel einer Familie die Fallstricke der falschen Versprechen von Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
Eigentlich sollte »Jimmy's Hall« vor fünf Jahren schon der letzte Film des damals fast achtzigjährigen Ken Loach sein. Doch scheinbar kann der Chronist der Lebensumstände der britischen Arbeitergesellschaft nicht anders, er muss mit filmischem Aktivismus auf soziale Ungerechtigkeiten und gesellschaftliche Missstände reagieren, und in dem Drehbuchautor Paul Laverty, mit dem er seit »Carla's Song« kontinuierlich zusammenarbeitet, hat er einen Gleichgesinnten an seiner Seite. »Sorry We Missed You« ist nun schon der zweite Film, den Loach sozusagen als Pensionär dreht. In »Ich, Daniel Blake« erzählten die beiden von einem 59-jährigen Arbeiter, der nach einem Herzinfarkt gegen das marode, britische Sozialsystem um die Sicherung seiner Existenz kämpfen muss, in der Zufallsgemeinschaft mit einer alleinerziehenden Mutter. In »Sorry We Missed You« geht er nun erneut in den nördlichen Teil von Newcastle, hier und da sogar in die selben Straßen. Der Film klinkt sich in das Schicksal einer Familie im unteren Mittelstand ein, die durch die Bankenkrise ihr Haus und mit dem Job des Mannes auch die Existenzgrundlage verloren hat.
Am Anfang des Films steht die Hoffnung darauf, dass es wieder aufwärts geht. Wir hören zunächst, und sehen dann Ricky, der seine Arbeitskraft und seinen Arbeitswillen in einem Jobgespräch bei einem Paketlieferdienst nachdrücklich anpreist. In der Stimme, dem Blick und der Haltung von Kris Hitchen (der bis vor kurzem noch Fabrik-und Bauarbeiter war) schwingt die Resignation und Verzweiflung mit, die er so entschlossen zu überspielen versucht. Doch die Helden von Ken Loach trotzen noch den unglücklichsten Umständen mit zäher Widerstandskraft. Ricky bekommt den Job, der ihm zunächst Unabhängigkeit vorgaukelt, ihn letztlich aber zum Sklaven eines unerbittlichen Systems macht. Er schließt einen Franchise Vertrag mit dem Paketdienstleister ab, der ihn bei hohem Risiko zum Leibeigenen macht. Um nicht einen großen Teil seines Lohns für die hohe Miete des Lieferfahrzeugs ausgeben zu müssen, entschließt er sich dazu, auf Kredit eines zu kaufen. Dafür muss das Familienauto verkauft werden, was wiederum bedeutet, dass seine Frau Abby ihren Job als Altenpflegerin in Zukunft mit öffentlichen Verkehrmitteln erledigen muss.
Schnell stellt sich heraus, dass der Druck in der Firma immens ist. Gerechnet wird mit einem reibungslosen Ablauf, jede Verzögerung, im Straßenverkehr, mit falschen Adressen oder rüpeligen Kunden, ist Sand im Getriebe, erhöht den Druck und schmälert den Verdienst. Nicht mal Toilettengänge sind einkalkuliert, die neuen Kollegen raten ihm, eine Plastikflasche im Wagen zu deponieren. Auch für familiäre Notstände gibt es keinen Spielraum, wenn mal beim rebellierenden Teenagersohn Elternpräsenz in der Schule gefragt ist. Einmal begleitet seine elfjährige Tochter Ricky auf einer Tour; die beiden trotzen der harten Arbeit ein paar liebevolle, familiäre Momente ab. Doch selbst dieses kleine Glück wird augenblicklich wieder untersagt. Und dann wird Ricky auch noch überfallen, bestohlen und verprügelt. Es ist kaum auszuhalten, wie der Film immer mehr Zumutungen über dieser tapferen kleinen Familie ablädt, wäre da nicht doch noch die schützende Zärtlichkeit des Blicks von Ken Loach, die Aufmerksamkeit für die kleinen Wunder des Alltags, für die Art, wie Ricky und Abby die letzten Reste von Menschlichkeit gegen die Anforderungen des Turbokapitalismus verteidigen. Abby beispielsweise weigert sich, die Alten und Kranken, die sie versorgt, im vorgesehenen Zeittakt abzufertigen und behandelt diese Menschen mit derselben Fürsorge, wie sie sich um ihre eigene Mutter kümmern würde.
Der Aktivist Ken Loach ist wütend auf die Verhältnisse, daran besteht kein Zweifel, doch als Filmemacher ist er dann doch vor allem von der Liebe angetrieben, zum Kino, zum Erzählen von Geschichten und zu seinen hart arbeitenden Helden. Es schmerzt zu sehen, wie diese hart arbeitende Familie in unmenschlichen Zeiten darum ringt, menschlich zu bleiben, und ihr dennoch immer unerbittlicher die Luft zum Atmen genommen wird.
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