Kritik zu Slow
Geht das, eine Beziehung ohne Sex? Die litauische Regisseurin Marija Kavtaradze lotet in ihrem Film einen Fall aus, der viele weitere Fragen zu Liebe und Partnerschaft aufwirft
Ganz langsam kommen sich Elena und Dovydas näher. Sie gehen zusammen spazieren, reden viel, bauen emotionale Nähe auf. Doch als der erste Kuss in der Luft liegt, spricht Dovydas es aus: Ich bin asexuell. Ein Bruch, zumindest vorerst. »Slow«, die litauische Einreichung für die Oscars, nimmt sich damit eines nicht nur im Film wenig bis gar nicht präsenten Themas an.
Kennengelernt haben sich die Tänzerin Elena (Greta Grineviciute) und der Gebärdendolmetscher Dovydas (Kestutis Cicenas) bei einem Tanzkurs für Gehörlose, den Elena gibt und bei dem Dovydas übersetzt. »Es ist, als würden wir uns schon seit Jahren kennen«, sagt Elena zu ihren Tanzkolleg*innen. Dieses Gefühl hat sie sonst bei keinem. Die Männer in ihrem Leben wechseln schnell und Sex scheint eine große Rolle für Elena zu spielen. Trotzdem lässt sie sich nach erster Verunsicherung auf eine Beziehung mit Dovydas ein.
Seinen Titel nimmt »Slow« beim Wort und gestaltet das Erzähltempo langsam, ohne plötzliche Wendungen. Er nimmt sich Zeit, um die unterschiedlichen Facetten der Figuren zu zeigen. Elena und Dovydas sprechen viel miteinander, versuchen einander zu verstehen. Dovydas erklärt, was seine Asexualität bedeutet: Er ist zu Sex in der Lage, verspürt aber kein Bedürfnis danach. Dennoch wünscht er sich Nähe. Ob es okay sei, asexuell zu sein, steht im Film nicht zur Diskussion. Natürlich ist es das. Doch was bedeutet das für eine Beziehung, was zeichnet eine solche überhaupt aus, welche Rolle spielt Sex und was ist, wenn er fehlt? All dies erforscht »Slow« auf behutsame Weise. Was Elenas und Dovydas' Beziehung ausmacht, zeigt sich in kleinen, liebevollen Momenten, etwa wenn Dovydas Elena nach einem unschönen Gespräch mit der gefühlskalten Mutter tröstet. Auch völlig körperlos ist die Beziehung nicht, Elena und Dovydas küssen sich und kuscheln viel. Doch immer, wenn Elena mehr will, läuft es ins Leere. Und das wird auf Dauer zum Problem.
Die Konzentration des Films liegt ganz auf den Hauptfiguren, auch die Kamera sucht immer wieder die Nähe zu ihnen, zeigt ihre Gesichter und das Wechselspiel der Emotionen, das sich in ihnen widerspiegelt. Elena ist hin- und hergerissen zwischen ihrer Zuneigung zu Dovydas und ihren sexuellen Bedürfnissen. Dovydas wiederum kämpft mit dem Gefühl, ihr nicht genug bieten zu können. Die Dilemmata treten hervor. Es ist natürlich unfair, wenn Elena den fehlenden Sex als Abweisung versteht. Es ändert aber nichts daran, dass sie es so empfindet.
Die körperliche Energie von Elena zeigt sich überdies, wenn der Film immer wieder die Tanzproben ihrer Compagnie zeigt. Bei einer Hochzeitsfeier ist es hingegen Dovydas, der Elena auf die Tanzfläche zieht und seinen ganz eigenen, simpel fröhlichen Stil zeigt. In diesen Szenen schwingt eine Hinterfragung gesellschaftlicher Normen mit. Von ihrer Statur her entspricht Elena eigentlich nicht dem vermeintlichen Ideal einer Tänzerin, wie sie selber sagt. Ihre teils brachiale Art zu tanzen wiederum passt sehr gut ins moderne Tanztheater, das die zarten Momente oft weniger sucht.
Es ist ein Clou des Films, dass seine Themen universell sind. Auch unabhängig vom konkreten Fall der Asexualität kann es in einer Beziehung unterschiedliche Bedürfnisse geben, müssen Kompromisse gemacht werden und gibt es Konstellationen, die nicht zusammenzupassen scheinen. Immer wieder wird über alternative Beziehungsmodelle diskutiert. In der Praxis gestalten sich die jedoch oft schwieriger. In »Slow« sagt Dovydas etwa, dass für ihn auch eine offene Beziehung okay wäre. Als aber Elenas Ex-Freund auftaucht, bricht sehr schnell die Eifersucht durch. Elena wiederum hat gar nicht aktiv nach einer festen Bindung gesucht und ihre Freiheit genossen. Dennoch wünscht sie sich eine »normale« Beziehung. Was aber ist normal und gibt es das überhaupt? Völlig unverkrampft wirft »Slow« genau solche elementaren Fragen auf.
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