Kritik zu Sauvage
In seinem Regiedebüt erzählt der französische Regisseur Cammille Vidal-Naquet von einem jungen Stricher und der prekären Balance zwischen Freiheit und Einsamkeit
Die Intimität überrascht, aber gerade das verleiht ihr einen besonderen Zauber. Léo hat sich mitnehmen lassen. Irgendwann ist er auf den alten Mann, der ihn sehnsuchtsvoll beobachtet hatte, zugegangen. Das ist schließlich sein Leben, ein paar Momente mit Fremden, die ihn für seine Dienste bezahlen. Nun sind sie zusammen in dem mit Büchern vollgestopften Apartment des über 70-Jährigen. Léo soll ihm ein Gedicht vorlesen. Doch damit tut sich der auf der Straße lebende junge Mann schwer. Also gehen sie gemeinsam ins Bett. Aber auch dort kommt es zu Komplikationen. Der Alte bittet Léo, seine Versuche, mit ihm zu schlafen, abzubrechen. Sein Körper spielt nicht mehr mit. Was ein eher trauriges Ende einer an sich schon unpersönlichen Begegnung sein könnte, wird zum Ausgangspunkt echter Nähe. Léo geht nicht. Er schmiegt sich einfach an den alten Mann, legt die Arme um ihn und hält ihn im Schlaf fest.
Diese Zärtlichkeit steht keineswegs im Widerspruch zu der wilden Seite von Léos Existenz, der Camille Vidal-Naquets Spielfilmdebüt »Sauvage« seinen Titel verdankt. Das Leben eines jungen Strichers, der die Straße einem geordneten Dasein vorzieht, kennt letzten Endes gar keine Widersprüche. Er ergibt sich ganz dem Moment. Anders als die übrigen »Rent Boys«, mit denen Léo gemeinsam am Straßenrand steht, geht er in seiner Arbeit auf. Léo ist schwul und steht auch dazu. Für ihn ist es kein Problem, einen seiner Freier zu küssen, wenn es sich ergibt, oder eben einfach nur einem einsamen Mann etwas Wärme zu schenken. Geld spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Er braucht es natürlich zum Überleben. Aber Vidal-Naquet und sein Hauptdarsteller Félix Maritaud betonen immer wieder Léos lässigen, fast schon selbstvergessenen Umgang mit Geld.
»Sauvage« ist eben kein Sozialdrama, das einem geneigten Publikum die Härten des Lebens der Stricher vor Augen führt. Dabei legt der oftmals dokumentarische Stil des Films diese Kategorisierung ebenso nahe wie Jacques Giraults auf größtmögliche Authentizität zielende Handkameraarbeit. Aber Vidal-Naquet bricht diesen an die Arbeiten von Agnès Varda erinnernden Realismus immer wieder. So beschwört er in den Clubszenen eine ganz andere Stimmung herauf. In ihnen bekommen die Körper von Léo und seinen Freunden eine fast schon mystische Aura. Das Wilde und Direkte ihres Lebens wird zum Ausdruck einer tieferen Wahrheit. Léo, der hoffnungslos in den etwas älteren Stricher Ahd (Éric Bernard) verliebt ist und immer wieder miterleben muss, wie der sich ihm entzieht, lässt sich nicht einfach treiben. Diese Bereitschaft, sich mal dahin mal dorthin spülen zu lassen, gibt ihm eine enorme Freiheit, die es auszuhalten gilt.
Vidal-Naquet beschönigt nichts. Immer wieder zeigt er die Spuren, die der Alltag auf der Straße und die Drogen auf den Körpern seiner Figuren hinterlassen. Und er konfrontiert einen auch mit der Gewalt, der sie fortwährend ausgesetzt sind. Aber er wertet dabei nicht. Selbst wenn Léo zum Opfer brutaler und menschenverachtender Freier wird, geht eine ungeheure Stärke von ihm aus. Er lässt sich weder von einem Sugar Daddy einsperren noch von einem Sadisten brechen. Ein wenig erinnert er sogar an Camus' Sisyphos, und wie ihn muss man sich auch Léo als glücklichen Menschen vorstellen.
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