Kritik zu Nonkonform

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2023
Original-Titel: 
Nonkonform
Filmstart in Deutschland: 
06.02.2025
L: 
117 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Arne Körner porträtiert in seinem Dokumentarfilm einen unkonventionellen Mann: Dietrich Kuhlbrodt, den einen als Staatsanwalt, anderen als Schauspieler aus Schlingensief-Filmen und wieder anderen als Filmkritiker bekannt

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In den 1960er Jahren ermittelte er als Staatsanwalt gegen einen Arzt, der unter den Nazis mehr als 500 behinderte Kinder hatte umbringen lassen. Nach der Wende verwurstete er dann Ossis mit der Kettensäge. Warum das kein Widerspruch ist? Das und vieles andere mehr erzählt ein Mann mit polierter Glatze, der wie ein preußischer Zuchtmeister aussieht – und der nebenher auch die deutsche Filmkritik runderneuerte.

Vorhang auf zu einem kurzweiligen Rückblick auf das Leben eines nonkonformistischen Paradiesvogels: Dietrich Kuhlbrodt nimmt die Dinge nicht allzu ernst – dies aber auf seriöse Weise. In Arne Körners dokumentarischem Porträt plaudert er aus einem – ziemlich großen – Nähkästchen. Wo beginnen? Nun ja, als Jugendfreund des Filmhistorikers Ulrich Gregor wurde Kuhlbrodt mit Enno Patalas bekannt, für dessen legendäres Periodikum »Filmkritik« er sich als beflissener Autodidakt das Handwerk des Kinokritikers selbst beibrachte.

Stets auf der Suche nach dem Unangepassten und Ausgeflippten, sah er »Tunguska – die Kisten sind da«, das Frühwerk eines unbekannten Filmanarchisten. In einer leidenschaftlichen Eloge feierte er den jungen Regisseur als »Rimbaud des neuen deutschen Films« – und war von da an unentbehrlicher Teil des Christoph-Schlingensief-Kosmos. Nach »Menü Total«, wo er gemeinsam mit Al­fred Edel kotzte, lieferte er im »Deutschen Kettensägenmassaker« unvergessene Momente.

Kuhlbrodt gibt nicht nur interessante Einblicke in die Schlingensief-Community, in der Kunst und Leben miteinander verschmolzen. Seine Art des Redens ist selbst schon eine unnachahmliche Performance. Wer ihn noch in jenen hitzigen Fernsehdiskussionen der 1990er erlebte, in denen er gegen die Zensur von Gewaltdarstellung pestete, weiß, welche Leidenschaft in diesem Verfechter des Abseitigen glüht. Fasziniert hängt man dem mentalen Aussteiger an den Lippen. Irgendwie hat er es geschafft, ein geordnetes Leben als Beamter zu führen und trotzdem gefühlt Kind zu bleiben. Plüschtier Wauwi, das in seinem liebevoll verkruschten Haus in Blankenese einen Ehrenplatz hat, wich zeitlebens nicht von seiner Seite. Und im berührendsten Moment erzählt dieser manisch hyperaktive Mann, der trotz allem eine gewisse Traurigkeit ausstrahlt, wie seine Frau Brigitte nach 50-jähriger Ehe in seinen Armen starb.

Zusammengehalten werden die kurzweiligen Streifzüge durch eine absurde Parallelwelt von Helge Schneiders humorvoll jazzigem Soundtrack und einer überbordenden Fülle an Archivmaterial. Wer glaubt, einen roten Faden entdeckt zu haben, muss miterleben, wie Dietrich Kuhlbrodt ein gewöhnliches Weinglas ergreift, herzhaft hineinbeißt, klirr, und mit hörbarem Knirschen auf den Scherben kaut. Ist so etwas überhaupt möglich? ChatGPT rät auf Nachfrage dringend ab. Für Dietrich Kuhlbrodt scheinen diese Regeln nicht zu gelten: »Ich mach' Kunst, Leute. Hallo!« – Mit diesem Satz verabschiedet sich der gut gelaunte Irrwisch. Man spürt: Dieser erhabene Dilettant hat noch einiges vor.

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