Kritik zu Muhi
In ihrer einfühlsamen Dokumentation schildern Rina Castelnuovo und Tamir Elterman das Schicksal eines Jungen aus dem Gazastreifen, der gemeinsam mit seinem Großvater in einer paradoxen Zwischenwelt gefangen ist
Lässt sich der Gaza-Konflikt filmisch aufarbeiten – die widerstreitenden Interessen, die komplizierte Historie, die paradoxen Zustände? Gibt es eine Methode, das Undurchschaubare durchschaubar zu machen? Nein, sagen die Dokumentarfilmer, jedenfalls nicht aus objektivierender Perspektive, nicht mit dem einen, alles erklärenden Rundumblick. Dazu ist die Lage zu verworren. Das große Ganze wird allenfalls in Details erfahrbar, in den kuriosen Blüten, die der Quasi-Krieg seit Jahrzehnten treibt. Beispielsweise der »Gaza Surf Club«, den Philip Gnadt und Mickey Yamine 2016 exemplarisch darstellten: ein Sportverein, in dem sich Freiheitsdrang, stille Verzweiflung und logistische Nöte gleichermaßen abbilden ließen. Oder jetzt »Muhi« von Rina Castelnuovo und Tamir Elterman, das Porträt eines kleinen Jungen, der unter absurden Bedingungen in einem Niemandsland aufwächst, das es so wohl kein zweites Mal gibt auf der Welt.
Bevor wir Muhi, kurz für Muhammad, zum ersten Mal sehen, erfahren wir aus Gesprächen seine Vorgeschichte: Schon als Baby mit einer seltenen Autoimmunkrankheit diagnostiziert, musste der Sohn eines Hamas-Aktivisten in ein israelisches Krankenhaus verlegt werden, weil im chronisch unterversorgten Gazastreifen keine medizinische Versorgung möglich war. Von dort gab es kein Zurück: Die Heimreise gilt als zu riskant, da der Junge immer wieder kurzfristig ärztliche Hilfe braucht, und so wird sein Großvater Abu Naim zum einzigen Bindeglied zur Familie. Naim lebt mit Muhi im Krankenhaus und zahlt einen hohen Preis für das Überleben seines Enkels: Er darf das Hospital nicht verlassen, nicht nach Gaza zurückkehren, keine Arbeit in Israel annehmen. Auch Muhis Mutter kann die Grenze nur in seltenen Ausnahmefällen überqueren. Und als sei all das nicht genug, mussten Muhi wegen eines Behandlungsfehlers Unterarme und Waden amputiert werden.
So weit, so deprimierend. Dass »Muhi« trotz dieser niederschmetternden Prämisse ein warmherziger, stellenweise geradezu heiterer Film geworden ist, liegt nicht zuletzt an dem kleinen Protagonisten: Er ist ein Sonnenschein, der gar nicht daran denkt, sich die gute Laune von herben Schicksalsschlägen oder der politischen Großwetterlage verderben zu lassen. Knapp vier Jahre lang schauen wir ihm beim Aufwachsen zu, ein Inbegriff der Resilienz, dem zwar die Heimat abhanden gekommen ist, der im vermeintlichen Feindesland aber soviel Zuneigung und Unterstützung erfährt, dass er die physischen und emotionalen Probleme seiner Situation erstaunlich gut wegsteckt.
Castelnuovo und Elterman, beide Fotojournalisten, die schon lange in der Region tätig sind, gewinnen durch ihre ruhige, unauffällige Beobachtung erstaunlich intime Einblicke in einen Alltag, der nie alltäglich ist. Auf ein Voice-over verzichtet ihre Erzählung, auch auf Interviews. So mag es für den Außenstehenden manches Mal schwierig sein, sich zu orientieren. Das menschliche Dilemma freilich wird so deutlich wie die hoffnungsvolle Botschaft, dass die Fronten sich auflösen, sobald die Menschen einander kennenlernen.
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