Kritik zu Liebe
Vor drei Jahren hat er mit dem »Weißen Band« die Goldene Palme gewonnen. Jetzt ist Michael Haneke wieder mit dem Hauptpreis in Cannes davongezogen. Und er hat sich neu erfunden. Mit »Amour«, einer Romanze im Angesicht des Todes, stellt sich ein geläuterter Regisseur vor, der auf maliziöse Effekte verzichten kann
Mit Getöse eröffnet Michael Haneke seinen »Liebesfilm« und legt mit seiner gewalttätigen Ouvertüre eine falsche und eine richtige Fährte. Kein Mord oder Totschlag, wie es scheint, nur eine von der Feuerwehr aufgebrochene Wohnungstür. Doch gleich daneben wird die zweite, mit Klebeband abgedichtete Flügeltür sichtbar. Dahinter versteckt: eine tote alte Frau, blumenumkränzt, aufgebahrt in Schönheit. Ein Memento mori. Der eigentliche Filmanfang, der festliche Auftakt in Rot und Gold, ist in den prunkvollen Zuschauerraum des Pariser Théâtre des Champs Elysées verlegt, wo ein älteres Paar gerade seine Plätze einnimmt. Noch wissen wir nicht, dass der Film im Musikermilieu spielt, aber das »Impromptu« von Schubert und die offensichtliche Bekanntschaft des Paars mit dem Pianisten – es ist der renommierte Alexandre Tharaud – belehren uns eines Besseren. Die Erinnerung an die Schubertverehrerin und »Klavierspielerin« (2001) Erika Kohut kommt auf, aus der Ferne winkt auch jenes ironisch »Arkadien« genannte, ebenfalls mit Schubert bestückte erste Kapitel aus Hanekes Fernsehzweiteiler »Lemminge« (1979), das die verlorenen Kinder des Autors einführt. Idealisierung war nie Hanekes Geschäft, doch der doppelte Filmanfang – Theaterdonner für eine (womöglich zwei) Tote und die Prachtentfaltung des Konzertsaals – entwirft eine nachhaltige, wenn auch nicht ganz gruselfreie erhabene Grundstimmung, die den Film im anschließend geschilderten Lebensalltag des Paars nicht mehr loslässt. »Arkadien« wird zum heimlichen Leitmotiv für eine Geschichte, die sich ausschließlich in der großzügigen Wohnung dieses Musikerehepaars abspielen wird, ein Hort abendländischer Kultur, angefüllt mit Bücherregalen, einem Flügel und einer erlesenen Gemäldesammlung. Ein Fernseher wäre hier deplaciert. Der Haneke’sche Alptraum spielt anderswo.
Als das Paar, Anne (Emmanuelle Riva) und Georges (Jean-Louis Trintignant), aus dem Konzert nach Hause zurückkehrt, sind Einbrecher dagewesen. »Was für ein Horror, wenn einer einbräche, während wir im Bett liegen.« Annes Worte sind Prophezeiung. Trotzdem trifft der Schock mit voller Härte, wenn sie am nächsten Morgen einen Schlaganfall erleidet, den ersten; nach einer missglückten Operation sitzt sie im Rollstuhl, ist rechtsseitig gelähmt, kann nicht mehr Klavier spielen. Genaueres erfährt man im Gespräch mit der aus dem Ausland angereisten Tochter (Isabelle Huppert). Hanekes abgezirkelte elliptische Erzählkunst, an der er seit dem Thriller »Caché« (2005) und seinem Heimatfilm »Das weiße Band« (2009) offensichtlich weiter gefeilt hat, zeigt sich in Bestform. Es geht um Timing und Suspense, aber es geht damit auch um die Lenkung und Schonung des Zuschauers, der seine Anteilnahme nicht für den Fortgang des Unausbleiblichen zu verausgaben hat. Der erste Schlag: das plötzlich erstarrte Gesicht Annes, ihr ausdrucksloser Blick, der minutenlang durch die Dinge, auch durch ihr Gegenüber, ihren Mann, hindurchzugehen scheint, ist Horror Vacui genug. Georges hält sein Versprechen, dass er sie nicht ins Heim abschieben wird, wenn ihr Zustand sich verschlechtert, sie gefüttert werden muss, inkontinent wird, zuletzt nicht mehr sprechen kann, nur noch ein »Mal!« – »Schmerz« im Französischen –, eine Weh-Klage, über die Lippen bringt. Georges wird auch ihre Bemerkung nicht vergessen, dass sie diese erbärmliche Existenz nicht bis zum Ende durchstehen will.
Was heißt hier Liebe? Ein Fremdwort auf dem Filmkontinent Hanekes, das zu den Kollateralschäden seiner Zivilisationskritik gehört, allenfalls in »Caché« oder »Code – Unbekannt« gewisse Konturen annimmt. Die Frage lastet notgedrungen auf dem Film, der zwar die Stationen einer Demenz vorführt, doch die Opferbereitschaft des Ehemanns und die Innigkeit seiner Anteilnahme immer mehr ins Zentrum rückt, der keineswegs an der sorgfältigen Chronik von Krankheit und Sterben laboriert, sondern zielbewusst auf das scheinbar unzerstörbare Projekt Liebe zusteuert. Im Umfeld von: Arkadien, Cythera, Pastorale, die in diesem Musentempel von Wohnung ihren Platz behaupten, die von der ewigen Harmonie zwischen Mensch, Natur und Geschichte berichten, davon, was das ganze Leben dieses Künstlerpaars bestimmt hat. In einer eigenen Gemäldesequenz führt Haneke die Landschaftsbilder, die von Claude Lorrain gemalt sein könnten, einzeln, Bild für Bild, vor. Die Abendsonne, die auf einer der Pastoralen die kleinen Gestalten anstrahlt und das Rot der Kleidung zum Leuchten bringt, erscheint wie ein letzter Gruß. Doch mit dem Trost des Schönen ist es eigentlich vorbei. Nachts holen Georges die Alpträume heim. Ein mit Brettern vernagelter Aufzug, das in den Fluren steigende Wasser, ein Überfall aus dem Hinterhalt: Todesvisionen, Todesangst. Zweimal fliegt im Verlauf des Films eine Taube durch den Lichtschacht in die Wohnung. Das zweite Mal – kurz vor dem Schluss, in einer Art Coda – fängt Georges das flatternde Tier mit einer Wolldecke ein und wiegt es in seinen Armen. Wie der Vater sein verlorenes Kind. Da ist Anne bereits tot
»Liebe« ist kein gewöhnlicher Liebesfilm, denn er schließt den Liebestod mit ein. Allzu deutlich ist die Abgrenzung zu anderen zeitgenössischen Alters- oder Sterbefilmen wie »An ihrer Seite« (Sarah Polley, 2006), »Another Year« (Mike Leigh, 2010) und »Halt auf freier Strecke« (Andreas Dresen, 2011), die alle mit Liebe zu tun haben, aber keine Bilder für die existenziellen Fragen bereitstellen. Unverkennbar bleibt Haneke seiner Protesthaltung, seiner gesellschaftlichen Aufgabe, seiner Verpflichtung zum Tabubruch treu, auch wenn er sich von der Fabel im eigentlichen Sinne verabschiedet, von seinen in den Exzess getriebenen Übeltätern, die in dem Freundespaar mit den weißen Handschuhen in »Funny Games« vielleicht ihren niederträchtigsten Ausdruck gefunden haben. Näher steht Haneke dem etwas in Vergessenheit geratenen Filmklassiker »Hiroshima, mon amour« (Alain Resnais, 1959), in dem nicht ganz zufällig die heute 85-jährige Emmanuelle Riva die Rolle ihres Lebens spielte. »Wenn man richtig hinsieht, muss man am Ende auch begreifen«, sagte Drehbuchautorin Marguerite Duras zu diesem Film. Haneke würde ihr, in Bezug auf seinen eigenen, sicher zustimmen. Die Autorin Duras weiß mehr als ihr männlicher Protagonist, der beharrlich wiederholt, dass eine Fremde wie die französische Zufallsgeliebte (Riva), die er in Hiroshima getroffen hat, eine Schauspielerin, die eine Rolle als Rotkreuzschwester in einem Antikriegsfilm spielt, nichts gesehen habe in Hiroshima. Sie weiß, wie sehr er irrt.
Innerlich verbunden sind die beiden Filme nicht nur durch die formale Strenge, durch Schwarzfilm, Ellipsen, sondern durch das Wissen um das Grauen und die Todesangst, die das Ende einer Liebe begleiten. Duras und Resnais erzählen – auch historisch bedingt – auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, Haneke begnügt sich mit der Gegenwart, mit einem Einzelschicksal im Alltag. »Bagatelle« heißt das andere, nur kurz angespielte Klavierstück des Films, von Beethoven als »musikalische Kleinigkeiten« abgetane Kompositionen, deren letzte Serie heute zu den wichtigen Klavierwerken des Komponisten gezählt wird. Im Film bricht das Stück nach einigen Takten ab, weil die Verzweiflung kommt. Es geht nur um eine Bagatelle in Hanekes Liebesfilm, um den Alltag einer Krankheit zum Tode, um Schicksal, um Entscheidungen, auch um Mord und Totschlag, doch als sinnstiftende, erlösende Tat. Um Liebe eben. Darin zeigt sich erneut der große Filmerzähler Michael Haneke, der die Widersprüche auf den Tisch legt, die Diskussion den anderen überlässt, aber seine Meinung klar und deutlich, in seinen Bildern, kundgetan und als verhinderter Musiker ein Stück von sich selbst gezeigt hat. Mit dem Memento mori der aufgebahrten Toten im Sinn und mit der letzten Liebkosung eines Abschiednehmenden, einer Pietà, mit zwei großen Darstellern, endet die Geschichte von Anne und Georges. Diese beiden Bilder allein machen sie unvergesslich.
Kommentare
Ende
In der Ärzte Zeitung und anderswo wird darauf hingewiesen, dass der "Hilfe" Ruf einer schwer hinrgeschädigten Frau trotzdem ein HIlferuf, eine echte Schmerzbekundung sein könnte. Haneke spielt mit diesem grausamen Bild, das die Krankenschwester runterspielt als beliebige Worte einer Umnachteten. Ein Mord am Ende wäre nicht nötig gewesen, denn dieser ist keine Antwort. So überfordert kann man nicht sein, dass man, wenn man am Ende seiner Kräfte ist, nicht um Hilfe bittet, sondern tötet. Denn in Kritiken, die diese Tat nicht einmal erwähnen, wird der Mord als Lösung im Raum stehen gelassen.
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