Kritik zu Another Year
Glück im Alter – eine Perspektive, die eher ungewöhnlich ist für den britischen Filmemacher Mike Leigh. Doch nicht alles ist eitle Freude in seinem neuen Film »Another Year«
»Ich habe mich der Aufgabe verschrieben, außergewöhnliche Filme über das gewöhnliche Leben zu machen«, hat Mike Leigh einmal gesagt, und es gibt in seinem Werk kaum einen Film, der diesem Anspruch nicht gerecht wird. Ähnlich wie sein Kollege Ken Loach beobachtet er die moderne britische Gesellschaft, wie sie sich langsam von den Rändern her auflöst. Nur selten thematisiert er ein stabiles Zentrum. Auch »Another Year« bildet da keine Ausnahme, obwohl es hier um ein glückliches, in Zufriedenheit gealtertes Ehepaar (Jim Broadbent und Ruth Sheen) geht, das Leigh verschmitzt Tom und Gerri nennt. Um diesen familiären gesellschaftlichen Kern kreisen gebrochene Figuren, jene, die an den Anforderungen der Moderne gescheitert sind, Suchende, die ihr Ziel aus den Augen verloren haben, oder schlicht Opfer der umfassenden Ablenkungsindustrie.
Wieder arbeitet Mike Leigh ohne festes Skript und schließt dabei an Filme wie »Lügen und Geheimnisse« oder »All or Nothing« an. Zu Beginn existiert die Idee, nicht mal die konkrete Besetzung steht fest. In unzähligen Proben über Wochen und Monate nähern sich die Schauspieler dann den Figuren an und werden eins mit ihnen. So sind die Dialoge nie schmissig komisch oder auf einen bestimmten Effekt hin inszeniert. Ihre Pointen entstehen spontan aus der Atmosphäre der Szene und sind daher bei allem Humor oft resignativ und bitter.
Da ist Ken, der alte Freund, der schon im Zug drei Dosen Bier trinkt, bevor er bei Tom und Gerri eintrifft. Oder Mary, die dringend einen Mann sucht, aber nicht irgendeinen, und sinnlos plappernd ein Glas Wein nach dem anderen in sich hineinschüttet. Da ist Ronnie, Toms Bruder, der nach dem Tod seiner Frau die Flucht nach innen antritt und zunehmend zu verwahrlosen droht. Oder Joe, Toms Sohn, der endlich, mit 30, eine Freundin gefunden hat. Und schließlich Carl, Ronnies Sohn, der sein Leben außerhalb der Familie führt und mit der eigenen Trauer um die Mutter nicht umgehen kann. In immer weiteren Kreisen bildet das problematische Umfeld den Teil der Gesellschaft ab, den wir als ganz normalen eben nicht so oft im Kino sehen.
Mike Leigh bewegt sich durch diese Kreise auf sein stabiles Zentrum zu. Wie aus einem anderen Film, aus Leighs »Vera Drake«, kommt so in der ersten Szene Imelda Staunton herüber und sitzt der Therapeutin Gerri mehr gedrängt als freiwillig gegenüber. Ihre Figur spielt im Folgenden keine Rolle mehr, vielleicht wird Leigh in einem späteren Film von ihr erzählen. Was diese erste Szene deutlich macht, ist, dass es hier nicht um das Besondere, die »unerhörte Begebenheit« geht, sondern um ein weiteres Bild im Buch des britischen Alltags, der sich hier etwas aus der unteren Mittelschicht heraushebt, die Leigh sonst bevorzugt zu seinem Thema macht.
Während Leigh also seine gesellschaftlichen Kreise durchmisst, geht ein Jahr vorbei. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, der Zyklus der Jahreszeiten findet seine Entsprechung in immer wiederkehrenden Bildern, die Tom und Gerri bei der Arbeit in ihrem Kleingarten zeigen. Sie sind es, die hegen und pflegen, die Sorge tragen, Verantwortung übernehmen und sich dabei wohlfühlen. Im Regen, an heißen Tagen, bei Wind und bei Schnee – zum Glück reicht eine gemeinsame Tasse Tee im Bretterverschlag der Kleingartenanlage. Dass Tom im Alltag geologische Bohrungen vornimmt und Gerri in einer kleinen Klinik als Psychotherapeutin arbeitet, ist kaum der Rede wert. Es geht Mike Leigh nur insofern um das Besondere, als dies immer Teil des Alltäglichen ist.
Und dann ist »Another Year« nach dem jugendlich überdrehten »Happy-Go-Lucky« natürlich auch noch ein wunderbarer Film über das Alter. Mike Leigh zeigt es mit ungeheurer Gelassenheit. Jenseits von sexueller Lust herrscht eine vertraute Zärtlichkeit, die von der langen gemeinsamen Zeit profitieren kann. Vertrauen hat Vertraulichkeit ersetzt, die Verbindung ist stabil. Das ist eine der vielen möglichen Varianten, die neben all der Einsamkeit, dem körperlichen Gebrechen und der Angst existiert. »Another Life«, sagt Imelda Staunton zu Beginn auf die Frage der Psychologin Gerri, was ihr denn fehle. Ein anderes, zufriedenes Leben, jahrein, jahraus, zeigt Mike Leigh in seinem Film.
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