Kritik zu Halt auf freier Strecke
Andreas Dresen hat mit seinem Film über das Sterben bei den Filmfestspielen von Cannes in diesem Jahr den Hauptpreis der Sektion »Un certain regard« erhalten
Dem Gespräch ist die Ratlosigkeit anzumerken. Als der Arzt die Diagnose verkündet, herrscht erst einmal Schweigen. Ein inoperabler Gehirntumor. Nur noch wenige Monate oder gar Wochen zu leben. Man sieht nur den Gesichtern von Frank und seiner Frau Simone an, was sie wirklich fühlen. Ein Großteil des Gesprächs besteht aus Schweigen und holprigen Sätzen. Einmal klingelt das Telefon, der Operationssaal ist dran, etwas Wichtiges. Man spürt förmlich, wie unvorbereitet diese einem Todesurteil für Frank gleichkommende Diagnose einschlägt, und man merkt, dass auch der Arzt, der diese Diagnose wahrscheinlich mehrmals pro Woche verkünden muss, immer noch hilflos dabei ist. Hm, sagt er oft.
Mit Halt auf freier Strecke hat Andreas Dresen einen schonungslosen und doch berührenden Film über das Sterben gedreht. Es gibt im deutschen Kino keinen anderen Regisseur, der so authentisch und lebensnah Alltag beschreiben kann wie Dresen. Das fängt in diesem Film schon bei den Lebensumständen der beiden an. Frank ist Schichtleiter bei DHL, Simone lenkt eine Straßenbahn. Sie haben sich ein Reihenhaus gekauft, irgendwo an der Peripherie von Berlin, nicht unbedingt schön, aber mit Charme, mit einem Blick ins Grüne. Es kommt nur am Rande vor, aber wir wissen: nach Franks Tod wird sich Simone dieses Haus, Inbegriff ihres kleinen Glücks, nicht mehr leisten können.
Halt auf freier Strecke folgt Frank in den letzten Monaten seines Lebens, zeigt seinen Versuch, am Anfang noch so etwas wie Normalität zu wahren, obwohl er immer vergesslicher wird und schon einmal ins Zimmer seiner Tochter pinkelt. Einmal schaut er fern, die Harald-Schmidt-Show, und da ist zu Gast: der Gehirntumor von Frank Lange, der prahlt, wie er sich in Frank eingenistet hat. Auch auf dem iPhone, auf dem Frank seinen Alltag und seine Beobachtungen mit kleinen Filmen festhält, erscheint er. Was beim ersten Mal wie ein entlastender Gag wirkt, bekommt im Verlaufe des Films aber einen tieferen Sinn: eine Metapher, wie jemand anderes die Kontrolle über Frank gewinnt.
Denn je mehr die unheilbare Krankheit fortschreitet, desto mehr verändert sich auch Frank, wird gebrechlich, jähzornig, die Haare fallen ihm aus, wegen der Chemotherapie. Am Anfang fährt die Familie noch für eine Nacht in das synthetische Ferienparadies »Tropical Island« nach Brandenburg. »Ich wollte eh nie auf die Malediven«, sagt Frank. Wie überhaupt der Film bei all seinem Naturalismus nie seinen Humor verliert. Einmal sagt sein Sohn zu Frank: »Wenn du stirbst, darf ich dann dein iPhone haben?« Und als die ganze Wohnung beschriftet wird, weil Frank alles sehr schnell vergisst, klebt auch auf seiner Stirn ein Zettel. Darauf steht: »Papa«.
Als seine Mobilität sich mehr und mehr einschränkt, entschließt sich Simone, ihn selbst und zu Hause zu pflegen, mit einer Palliativärztin, die sich auf unheilbare Krebsfälle spezialisiert hat. Frank liegt in seinem Bett und blickt auf die Agonie einer Winterlandschaft, die an ein Bild von Bruegel erinnert. Halt auf freier Strecke beschreibt das Sterben im Mikrokosmos einer Familie, zeigt, wie sich das Leben und seine Abläufe verändern, zeigt, welche immense Belastung ein solcher Krankheitsfall bedeutet, zeigt aber auch, wie das Leben trotzdem weitergeht, weitergehen muss. »Ich muss zum Training«, sagt Franks Tochter, als ihr Vater gestorben ist. Für solche Szenen liebt man diesen Film, weil sie beiläufig daherkommen und doch von der Meisterschaft einer präzisen Inszenierung zeugen.
Denn die Haltung dieses Films bleibt immer nüchtern, sie weidet sich nie am Leiden, sie beutet auch nie unser Mitleid aus. Dresen hat diesen Film mit seinen hervorragenden Darstellern, allen voran Milan Peschel und Steffi Kühnert, weitgehend improvisiert gedreht; die Ärzte und das Pflegepersonal sind Laien. Und das ist diesem Film sehr gut bekommen, aber auch eine große Leistung: es gibt nicht viele Schauspieler, die normale Menschen glaubhaft verkörpern können.
Am Ende dieses Films gibt es keine Erlösung, keine Transzendenz, nur den Tod. Aber noch kein anderer Film hat so überzeugend bewiesen, dass das Sterben zum Leben gehört wie Halt auf freier Strecke. Vielleicht mag man sich diesen Film nur einmal anschauen. Aber er ist ein Ereignis.
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