Kritik zu Haute Couture
Die Tragikomödie über ein Vorstadtmädchen, das bei einer harschen Schneiderin in die Lehre geht, feiert Handwerk als Mittel weiblicher Selbstermächtigung
Es bedarf nur einer Fahrt mit der Metro, um die verrufensten und die nobelsten Ecken des Großraums Paris miteinander zu verbinden. Doch kulturell scheint die Kluft zwischen »neuf-trois« – der Banlieue Seine Saint-Denis – und den Champs-Elysées im 8. Arrondissement unüberwindbar. In diesem Quartier befinden sich die Haute-Couture-Ateliers von Dior, geleitet von der harschen, kurz vor der Rente stehenden Directrice Esther. In der Metro wird Esther ihre Handtasche entrissen. Sei es nun schlechtes Gewissen oder der neugierig machende Inhalt: Am nächsten Tag bringt ihr die junge Diebin Jade die Tasche zurück. Esther lässt sich von Jades Lügen nicht bluffen, erkennt aber den Mumm des Mädchens, dessen Stallgeruch sofort die »Gossengöre« verrät, und bugsiert es in einem giftigen Wortwechsel kurzerhand in ihr Schneideratelier. Jade beginnt ein Praktikum als Näherin. So zart die Stoffe sind, so behutsam Jade sie mit ihren »Feenhänden« anfasst: Untereinander behandeln sich die Frauen alles andere als zartfühlend und dreschen nicht nur verbal aufeinander ein.
Die Tragikomödie gehört zu jenen französischen Filmen, in denen wie z. B. in »A la carte« und »Parfüm des Lebens« vom Verschwinden bedrohte Handwerkskünste gefeiert werden, die Handlung aber in ihrer pädagogischen Beflissenheit recht schematisch daherkommt. Auch die »éducation sentimentale« des pampigen Lehrlings und ihrer verbissenen Mentorin ist im Groben vorhersehbar, störender ist jedoch, dass ausgerechnet die Details der stofflichen Sticheleien zu kurz kommen. Dennoch hat es etwas ungemein Erfrischendes, wie unverblümt in dieser Frauenwelt Temperamente und Argumente ausgelebt werden. Aber nur jenseits des Ateliers, denn ihre Arbeit ist Esther heilig.
Sylvie Ohayon, selbst ein Kind der Vorstädte, hat sich sukzessive als Werberin, Romanautorin und Regisseurin nach oben gearbeitet. Nach ihrem Regiedebüt »Papa was not a Rolling Stone« (2014) schöpft sie auch in ihrem zweiten Film aus eigener Erfahrung. In einem Wechselspiel aus Gegensätzen und Gemeinsamkeiten gelingen ihr lebendige Frauenporträts und die Darstellung von Klassenkonflikten aus weiblicher Augenhöhe. Da ist der Gegensatz zwischen Mädchen in – horribile dictu – unförmigem Polar-Fleece, die ihre Underdogkomplexe aggressiv ausleben, und blonden Models, denen in unendlichen Stunden Handarbeit Gewänder aus Seidenplissee auf den Leib maßgeschneidert werden; ein Hochhaus voll Musik und Geschrei vs. ein Atelier, in dem man die Stecknadel fallen hört; eine Schafferin, die keine Ausreden duldet, vs. eine Mutter, die sich in Depressionen suhlt; die Eifersucht der Busenfreundin vs. handfeste Solidarität.
Nathalie Baye vertritt als Esther eine Philosophie von Blut, Schweiß und Tränen. Ihre Motivation, etwas Schönes zu erschaffen, um die Welt besser zu machen, reicht über das protestantische Arbeitsethos hinaus, und der Preis, den sie für ihre Hingabe zahlt, ist hoch. Kein Feelgood-Film also, sondern ein spannendes Frauendrama über Stolz, Selbstermächtigung und das Leiden, das damit einhergeht.
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