Kritik zu Gernstls Reisen – Auf der Suche nach irgendwas
Franz Xaver Gernstl quatscht Leute an – und filmt dabei. Seine unprätentiösen
Miniaturen aus dem Alltag funktionieren überraschenderweise gut auf der Leinwand
Von Süden nach Norden. Und von Osten nach Westen. Seit vierzig Jahren bereist Franz Xaver Gernstl mit einem Kamera- und einem Tonmann Deutschland. Mehrfach wurden seine filmischen Reisetagebücher mit dem Grimme-Preis prämiert. Seine aus dem Bauch heraus gedrehten Notizen aus der Provinz sind eigentlich typische Fernsehproduktionen. Doch nun bringt Gernstl, der unter anderem Filme von Doris Dörrie, Fatih Akin und Andreas Dresen produzierte, einen aktualisierten Rückblick auf die interessantesten Begegnungen seiner mitgeschnittenen Landstreicherei ins Kino. Seine unprätentiösen Miniaturen über Menschen, denen außer Gernstl wohl kaum jemand Beachtung geschenkt hätte, funktionieren auch auf der großen Leinwand. Und das sogar überraschend gut.
Alles begann 1983 an einer gottverlassenen Bushaltestelle in Baden-Württemberg. Gernstl hatte Jack Kerouacs »On The Road« gelesen und träumte von der großen Freiheit auf der Straße. Kurzerhand überredete er seine Eltern, ihr Haus zu verpfänden. Mit dem Geld finanzierte er das Equipment samt einem alten Lieferwagen. »Fahrt mal los und schaut, was euch unterkommt«, erklärte ein Redakteur vom Bayerischen Rundfunk. Ein derartiger Start für ein neues Format wäre heute wohl undenkbar.
Und dann stand Gernstl an dieser Bushaltestelle irgendwo im Nirgendwo und fragte eine junge Frau, wann der Bus kommt. Banaler geht es wirklich nicht. Das war jedoch der Startmoment für Hunderte weitere Begegnungen der unprätentiösen Art: Anquatschen, Zuhören und ins Plaudern kommen: Dieses denkbar einfache – aber nicht einfach umsetzbare – Prinzip führt jeweils dazu, dass Menschen sich öffnen. Man spürt, dass sie nicht das Gefühl haben, vor der Kamera zum Sprechen gebracht zu werden.
Tatsächlich hat keiner der Angesprochenen irgendein Sendungsbewusstsein. Und doch haben alle auf persönliche Art etwas zu sagen. Mit dünner Stimme berichtet eine Frau auf einem Friedhof in Ostdeutschland davon, wie sie nach dem Tod ihres Mannes allmählich wieder ins Leben zurückfand. Ein Müller vor einer traditionellen Windmühle erklärt, warum er mit sehr wenig auskommt. Und ein Vater in der Nähe von Köln erzählt, warum ihn sein Sohn mit Downsyndrom glücklich macht. Gernstl sucht nicht nach derart unterschwelligen Geschichten. Er findet sie. Über die Jahre hinweg hat der Filmemacher ein Ohr für das Wundervolle im Banalen entwickelt.
Für die große Leinwand hat Gernstl das Format ein wenig aufpoliert. Die Musikuntermalung forciert hier und da die Stimmung. Ton- und Kameramann sind zu sehen. Der erwachsene Sohn, selbst Filmemacher, kommentiert die Arbeit des Vaters. Beim Kochen unterhalten die beiden sich darüber, dass man das Glück nicht findet, wenn man danach sucht. Zuweilen erscheint »Gernstls Reisen« schon etwas mit Metaebenen überladen. Der urwüchsige Charme dieser liebenswürdigen Erkundungen des Alltäglichen ist glücklicherweise erhalten geblieben. Gernstl hat das Genre des Heimatfilms auf seine Weise neu definiert.
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