Kritik zu Ein Schweigen

© Arsenal Filmverleih

Erneut nach einem wahren Fall inszeniert Joachim Lafosse ein verwickeltes Familiendrama um Missbrauch, Verdrängung, Vertuschung und falsche Loyalität

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»Ich habe nichts gesagt. Ich habe nie etwas gesagt«, gesteht Astrid Schaar (Emmanuelle Devos) unter Tränen auf der Polizeistation. Ihr Adoptivsohn Raphaël (Matthieu Galloux) ist in der Nacht verhaftet worden, weil er seinen Vater François ­(Daniel Auteuil) so schwer angegriffen hat, dass ihm nun eine Anklage wegen versuchten Mordes droht. 

Er sei durchgedreht, versucht Astrid nun zu erklären, weil er als Einziger in der Familie von nichts gewusst habe. Was war geschehen, was hatte den Jugendlichen derart in Rage gebracht? Als brillanter Anwalt ist François höchst angesehen, weil er immer wieder bei Missbrauchsprozessen die Familien der Opfer vertritt und für Gerechtigkeit sorgt. Auch mit seinem aktuellen Pädophiliefall steht er wieder im Zentrum des Medieninteresses. Doch nun hatte es eine Hausdurchsuchung bei den Schaars gegeben, Astrid war mit ihrem Sohn ins Hotel gezogen. 

Der belgische Regisseur Joachim ­Lafosse beginnt sein psychologisches Drama »Ein Schweigen« mit einer Leerstelle, die er im Laufe der 99 Minuten meisterhaft umkreist und einengt. Er schlägt aber auch so manchen Haken. Zunächst mit einem Sprung zurück, in die Zeit vor der Eskalation. Caroline (Louise Chevillotte), die älteste Tochter, die sich von der Familie distanziert hat, drängt ihre Mutter, Raphaël endlich die Wahrheit über seinen Vater zu sagen, bevor dies Astrids Bruder Pierre (Damien Bonnard) tut. Und Astrid, die seit einem Vierteljahrhundert schweigt und verdrängt, muss sich entscheiden, ob sie an der Seite ihres Mannes steht und versucht, die Fassade aufrechtzuerhalten, oder ob sie ihr Schweigen bricht.

Der 49-jährige Lafosse ließ sich, wie zuvor bereits bei »Unsere Kinder« von 2012, von einem realen Fall inspirieren. 2007 war Victor Hissel, der als Anwalt die Opferfamilien im Fall des belgischen Kinderschänders Marc Dutroux vertrat, wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials angeklagt worden. Zwei Jahre später hatte Hissels Sohn versucht, seinen Vater umzubringen.

Der Film, der vergangenen Herbst auf dem Filmfestival in Rom den Regiepreis gewann, inszeniert elliptisch die Enthüllungen und das Auseinanderbrechen der Familie. Er interessiert sich weniger für Tat und Täter, sondern seziert die schwerwiegenden Folgen für die Beteiligten und vor allem das Agieren des wohlsituierten Paares, das mit perfiden Mitteln lange Zeit alles dafür tut, die eigene privilegierte Existenz zu schützen, und dabei keine Rücksicht auf das Leid der Opfer nimmt. Der Film zeigt, wie Scham, Schuld und Unausgesprochenes unwillkürlich in die Katastrophe führen. In den Bildern von Kameramann Jean-François Hensgens findet das eine visuelle Entsprechung, wenn die heimeligen Farben den zunehmend dunkleren, kälteren weichen.

Auf der Handlungsebene ist das nicht immer ganz schlüssig, vor allem die Rolle Astrids als Mitwisserin und ihre Motive bleiben unausgegoren, auch wenn Emmanuelle Devos mit einer Mischung aus Verletzlichkeit, Anspannung und unbedingtem Durchhaltewillen überzeugt. Und die Journalisten, die Tag und Nacht das Anwesen der Schaars belagern, werden als sensationsgieriges Klischee gezeichnet. Unter ihrer ständigen Beobachtung und übergriffigen Berichterstattung leiden auch Menschen, die ungewollt und unschuldig Teil des Falls werden. 

Doch als Auseinandersetzung mit einer gesamtgesellschaftlichen Haltung des strukturellen Wegschauens und Schweigens, die in Frankreich gerade durch Frauen der #MeToo-Bewegung und durch Missbrauchsvorwürfe gegen populäre Männer der Film- und Fernsehbranche herausgefordert und entlarvt wird, trifft Lafosses Film durchaus einen Nerv. Und das verstörende Finale macht die dramaturgischen Schwächen mit nahezu Haneke'scher Präzision und Konsequenz wieder wett. Der letzte Blick gehört, wie der erste, Astrid. Er bleibt rätselhaft. 

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