Kritik zu Die leisen und die großen Töne
Wie in seinem letzten Film »Ein Triumph« lässt Emmanuel Courcol zwei gegensätzliche kulturelle Sphären aufeinandertreffen. Hier ist es die Musik, die aus einer unwahrscheinlichen Begegnung ein tiefes Einverständnis werden lässt
Von Erroll Garner zu Giuseppe Verdi ist es nur ein kleiner Schritt. Mit ein paar wenigen Noten lässt sich die Verbindung herstellen zwischen Jazz und Oper, wie Thibaut seinem Bruder Jimmy mit flinken Fingern am Klavier demonstriert: Die Musik zirkuliert, ihre Genres beeinflussen sich unablässig, der Gegensatz zwischen E und U ist ohne Belang.
Vor ein paar Wochen kannten die zwei einander noch gar nicht. Thibaut (Benjamin Lavernhe) war ein gefeierter Dirigent, der in Paris lebt, während Jimmy (Pierre Lottin) als Kantinenkoch in einem kleinen Ort im strukturschwachen Norden von Frankreich arbeitete. Dann erfuhr Thibaut aus heiterem Himmel, dass er an Leukämie erkrankt ist. Das Knochenmark seiner Schwester war jedoch nicht kompatibel – seine Eltern verschwiegen ihm 37 Jahre lang, dass er adoptiert wurde. Der leibliche Bruder war schnell gefunden, aber er reagierte zunächst abweisend. Seine Pflegemutter sprach ein Machtwort; schließlich hatte sie ihn zu Anstand und Solidarität erzogen.
Emmanuel Courcols Film absolviert dieses melodramatische Pensum in Windeseile, um sich sodann Zeit nehmen zu können für eine berückende Studie über Verwandtschaft. Sie wird im konkreten Sinne einnehmend verhalten gespielt und ist im übertragenen eine vielschichtige Erfahrung.
Denn die Verbrüderung ist mitnichten eine ausgemachte Sache, zu groß scheint die soziale Kluft zwischen dem weltgewandten Dirigenten und dem ungeschliffenen Koch. Die Knochenmarkspende und die Dankbarkeit dafür schaffen noch keine Nähe. Sie entwickelt sich erst, als Thibaut entdeckt, dass Jimmy Posaune in einem Fanfarenzug spielt und sich als Jazzkenner entpuppt. Mehr noch, er besitzt immenses Talent und verfügt über das absolute Gehör. Thibaut ist elektrisiert.
Schon davor lernen wir ihn als einen so leidenschaftlichen Pädagogen kennen, wie es Kad Merad in Courcols vorangegangenem Film »Ein Triumph« war. Jetzt bringt er dem Bruder die Grundlagen des Dirigierens bei. Die Musik wird zum Bindeglied, das zugleich einen schmerzlichen biografischen Konjunktiv eröffnet: Welche Karriere wurde Jimmy verweigert?
Dieses Gefühl einer existenziellen Kränkung hat ihr Recht im Film, der es indes in einer bestrickenden Gegenbewegung auffängt. Denn umgekehrt entwickelt die Welt, in der auch er hätte aufwachsen können, eine immer stärkere Anziehungskraft auf Thibaut. Ein Streik, den er anfangs nur beiläufig mitbekommt, erhält für ihn bald großes Gewicht. In diesem Arbeitskampf soll die Musik ihren Beitrag leisten: Immerhin hat Maurice Ravel seinen »Bolero« nach dem Besuch einer Fabrik komponiert!
Erneut zeigt sich Emmanuel Courcols Talent, einen nüchternen Schauplatz in einen wunderbaren Lernort zu verwandeln. Und weil er die proletarische nie gegen die großbürgerliche Musikpraxis ausspielt, kann das widerspenstig triumphale Finale zu deren gemeinsamen Kern vordringen: der Freude.
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