Kritik zu Captain Phillips

© Sony Pictures

2013
Original-Titel: 
Captain Phillips
Filmstart in Deutschland: 
14.11.2013
L: 
134 Min
FSK: 
12

Wenn Jason Bourne mal nicht eingreift: Paul Greengrass bringt die Geschichte der Entführung der "MV Maersk Alabama" durch somalische Piraten auf die Leinwand – mit Tom Hanks in der Titelrolle

Bewertung: 4
Leserbewertung
3.333335
3.3 (Stimmen: 6)
Es ist zunächst nur ein kleiner Punkt auf dem Schiffsradar. Dann nähert sich das klapprige Schnellboot, auf dem sich vier ausgehungerte und schwerbewaffnete Männer befinden. Wie eine Nussschale treibt das Boot im hohen Wellengang neben dem riesigen Containerschiff. Auf den ersten Blick sieht die Szene aus wie ein klassisches David-gegen-Goliath-Motiv, in dem sich der Winzling auf einen scheinbar aussichtslosen Kampf mit dem Riesen einlässt. Aber die Kräfteverhältnisse sind hier umgekehrt proportional zur Größe verteilt. Denn während die somalischen Piraten auf dem kleinen Boot furchtlos mit einer dünnen Leiter versuchen, das Schiff zu entern, versetzt ihr Anblick Kapitän und Besatzung des amerikanischen Frachters in Angst und Schrecken. 
 
 
Natürlich ist die dramatische Szene auf hoher See auch eine Analogie dafür, wie die ökonomischen Machtverhältnisse in der Welt angelegt sind. Die ausgemergelten Gestalten, die das Schiff kapern, spiegeln die Angstfantasien der westlichen Wohlstandsgesellschaften vor bevorstehenden Verteilungskämpfen. Dabei erzählt Paul Greengrass in seinem neuen Film Captain Phillips eigentlich nur eine »wahre Geschichte«, die sich sehr nah an den konkreten Erlebnissen eines amerikanischen Kapitäns vor der ostafrikanischen Küste hält, dabei aber aus dem Einzelschicksal heraus den Zustand der globalisierten Gesellschaft reflektiert. 
 
Der internationale Schiffsverkehr ist der wichtigste Motor für die freie Fluktuation der Waren auf dem Weltmarkt. Das haben auch die Piraten am Kap Horn erkannt, die sich mit der Entführung von Handelschiffen und Erpressungen ihren Teil vom Kuchen nehmen wollen. Greengrass beginnt seinen Film mit dem Aufbruch auf beiden Seiten. In Vermont verabschiedet sich Richard Phillips (Tom ­Hanks) am Flughafen von seiner Frau (Catherine Keener) und fliegt nach Oman, von wo er einen Frachter mit Lebensmitteln nach Mombasa überführen soll. Derweil erhält an einem Strand in Somalia der ehemalige Fischer ­Muse (Barkhad Abdi) als Leiter eines vierköpfigen Kommandos von einem lokalen Warlord den Auftrag zur Entführung eines Handelschiffes. Nachdem die Piraten in einem halsbrecherischen Manöver die »Maersk Alabama« geentert haben, müssen sie ihren Plan, das Schiff in somalische Gewässer zu lenken, bald aufgeben. Stattdessen entführen sie den Kapitän und flüchten mit einem Rettungsboot Richtung Küste, als sich ein Kriegsschiff der US-Marine nähert. 
 
 
Was als Drama auf hoher See in einem riesigen Frachtschiff beginnt, entwickelt sich in der Enge des Rettungsbootes zum klaustrophobischen Psychothriller. Während Phillips versucht, Muse von der Aussichtslosigkeit seines Unternehmens zu überzeugen, und sich zwischen den Entführern eine gefährliche Nervosität breitmacht, übernehmen ­Navy Seals auf dem Verfolgerschiff das Kommando. Sie haben den klaren Auftrag, das Rettungsboot nicht an die Küste gelangen zu lassen, was nicht unbedingt das Überleben der Geisel einschließt. Auch hier zeigen sich wieder die Kontraste zwischen der höchst professionellen Militärapparatur mit Kriegschiffen, Hubschraubern und Präzisionsschützen und den ausgehungerten Piraten, die nicht einmal Schuhe an den Füßen haben und sich in eine zunehmend ausweglose Situation hineinmanövrieren. 
 
Greengrass konzentriert sich mit einer äußerst spannungsgeladenen Erzählweise voll auf das Entführungsopfer als Identifikationsfigur, lässt aber dennoch den Hintergrund und die Motivationen der Kidnapper durchscheinen, die furchterregend, aber nicht ohne Mitgefühl gezeichnet werden. Das alles geschieht hier ohne politisch korrekte Anstrengungen, sondern aus dem semidokumentarischen Anspruch heraus, den Greengrass schon in Filmen wie Bloody Sunday und Flug 93 praktiziert hat. Ob Phillips’ Überleben letztendlich das Ergebnis militärischer Präzisionsarbeit oder das glückliche Zufallsprodukt eines unkalkulierbaren Einsatzes ist, bleibt am Ende offen. Wenn er nach seiner Rettung emotional zusammenbricht, während die Marineärztin, die ihn untersucht, ihre Anweisungen im militärmedizinischen Kommandoton gibt, ist das ein Bild tiefster Einsamkeit und alles andere als ein Happy End.

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