Kritik zu Bis wir tot sind oder frei
Oliver Rihs erzählt, wie der Schweizer Ausbrecherkönig Walter Stürm in den 80er Jahren zu einer Galionsfigur der Schweizer Linksradikalen wurde und unter anderem das Leben der engagierten Anwältin Barbara Hug veränderte
Dass Ikonen ein künstliches Konstrukt sind oder zumindest sein können, ist im 21. Jahrhundert mit gecasteten Musikstars, aufwendigen Memes und geschicktem Marketing kein Geheimnis mehr. Dass gesellschaftliche Strömungen solche Idole, wenn auch mit besten Absichten, schon vor mehr als 40 Jahren schufen, ist im kollektiven Bewusstsein weniger verankert. Der Schweizer Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) wird in den 80er Jahren zu einer Ikone der linken Szene bis hinein in Kreise der RAF, glaubt man dem Film »Bis wir tot sind oder frei« des Schweizer Regisseurs Oliver Rihs. Stürm selbst, zumindest der Film-Stürm, macht sich zum Popstar mit Outlaw-Glamour.
Frei nach Reto Kohlers Biografie »Stürm – Das Gesicht des Ausbrecherkönigs« erzählt Rihs die Geschichte jenes Schweizers, der nach Banküberfällen, Juwelen- und Autodiebstählen immer wieder im Gefängnis landet und immer wieder mit schelmischer Unverfrorenheit ausbricht. Mal tarnt er sich als Polizist mit der eigenen Akte unterm Arm, ein anderes Mal hinterlässt er in einer Zelle einen Zettel mit »Bin beim Ostereiersuchen«. Nach einem seiner Ausbrüche sucht er den Kontakt zu der Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger), die Linksautonome vor Gericht vertritt. Schnell ist sie vom Charisma Stürms (Joel Basman) und seinem Drang nach Freiheit eingenommen. »Stürm ist unser Che«, verkündet sie eines Tages in der Kanzlei des Zürcher Anwaltskollektivs. Sie bewundert Schily und Ströbele, die in Deutschland das Gericht als Bühne nutzen. Zu der deutschen Anwältin Meret Spengler (Bibiana Beglau) hat sie da schon Kontakt, war mit Stürm in deren schwäbische Villa geflüchtet. Spengler ist die Tochter eines SS-Mannes und will die Taten ihres Vaters mit ihrer alternativen Kommune und ihrer Arbeit als Anwältin wiedergutmachen.
Auch Stürm und Hug sind beschädigte Kinder. Stürm wurde von seinem Vater, einem reichen Industriellen, nach wilden Jugendeskapaden verstoßen, Hug leidet an den Folgen eines falsch behandelten Nierentumors in der Kindheit und an Eltern, die sie entweder in ein Internat oder in ein Krankenhaus verfrachtet haben. Rihs zeigt in seinem Politdrama zwei komplett gegensätzliche, aber jeweils in sich gefangene Menschen, die nach Freiheit streben: Hug, die an die Sache glaubt und ohne Rücksicht auf sich selbst und ihre Gesundheit kämpft, Stürm, der keiner Ideologie anhängt, dem es ausschließlich um sich selbst geht, auch um Würde und Freiheit, allerdings nur um seine eigene. »Freiheit kann man sich nur nehmen«, lautet seine Parole.
Insbesondere dem inneren und körperlichen Kampf Hugs zuzusehen, ist schmerzlich. Leuenberger verleiht der Figur eine Unbarmherzigkeit vor allem mit sich selbst. Die zarte Annäherung ist ebenso schmerzlich wie hoffnungslos, zumindest für Hug. Doch irgendwie bleiben die beiden Figuren auch allzu plakativ und in ihren Radien beschränkt, Stürm durch Gefängnismauern und Haftbefehle, Hug durch ihre starke Behinderung. Ihre individuelle Freiheit finden sie am Ende trotzdem.
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