Kritik zu Babycall
Eine Mutter zwischen Wahn und Wirklichkeit: Pål Sletaunes stiller Psychothriller mit der seit Verblendung zum Star aufgestiegenen Noomi Rapace lässt lange offen, wohin seine Reise geht
Es beginnt wie eine Sozialstudie. Unterstützt von den Behörden versucht Anna (Noomi Rapace) in einer schäbigen Wohnung in der tristen Osloer Vorstadt so etwas wie einen Neuanfang. Die Angst ist ständiger Begleiter der offenkundig schwer traumatisierten Frau. Sie verbarrikadiert sich hinter verschlossenen Türen und zugezogenen Fenstern, bewacht ihren Sohn Anders (Vetle Q. Werring), als schwebe er in größter Gefahr. Der Vater muss dem Achtjährigen schwer zugesetzt haben und vielleicht auch ihr; wir erfahren keine Details. Das unruhige Flackern in Annas Augen spricht jedoch Bände, ihre stille Härte, diese weidwunde Sprungbereitschaft. Für den Jungen wird sie, das Opfer, gleichwohl auch zur Täterin: Sie umsorgt und kontrolliert ihn bis an den Rand der Erstickungsgefahr.
Immerhin, unter dem Druck der Sozialarbeiter lässt Anna Anders schließlich zur Schule gehen – in ihrer panischen Fürsorglichkeit würde sie dabei am liebsten den ganzen Tag auf dem Schulhof ausharren, um dem Kind nahe zu sein. Irgendwann sieht sie auch ein, dass es nicht gut für den Jungen ist, wenn er in ihrem Bett schläft. Also schafft sie ein Babyfon an, das nachts neben ihr liegt und vor allem sie selbst dabei unterstützen soll, ein bisschen loszulassen. Der Junge nämlich ist eigentlich ganz dankbar für den Abstand. Handelt Babycall also von der allmählichen Regeneration einer schwer Verletzten? Oder bahnt sich da ein Thriller an, in dem die Geister der Vergangenheit dadurch ausgetrieben werden, dass die Frau ihren Peiniger schließlich erledigt? Regisseur Pål Sletaune hält die Dinge lange in der Schwebe und bietet eine weitere Option an, wenn das Babyfon plötzlich Geräusche empfängt, die nicht aus Anders’ Zimmer stammen, sondern womöglich aus einem anderen Apartment. Schreie sind da zu hören, Hilferufe eines Kindes, die in Anna einen detektivischen Impuls auslösen. Sollte sich in den verwinkelten Etagen des Wohnblocks ein ähnliches Verbrechen abspielen wie das, das sie selbst erlebt hat?
Aber auch diese Spur führt nicht wirklich ins Zentrum des Films; irgendwann schleichen sich Irritationen ein, die die Objektivität des Gezeigten infrage stellen. Ein zweiter Junge taucht auf, der auf rätselhafte Weise kommt und geht. Er könnte ein neuer Freund von Anders sein, vielleicht auch ein imaginärer Spielgefährte. Dann gibt es diesen Parkplatz, der sich vor Annas Augen in einen Waldsee und wieder zurückverwandelt. Allmählich wird deutlich, dass alles, was wir sehen, letztlich die sehr subjektive Perspektive der Protagonistin ist. Mehr und mehr entpuppt sich Babycall als Reise in die Windungen einer angeknacksten Psyche, und dabei geht in narrativer (und logischer) Hinsicht im letzten Drittel einiges drunter und drüber; der Film nimmt ziemlich großen Anlauf, um am Ende einen ziemlich kleinen Satz zu machen. An die Koryphäen des unzuverlässigen Erzählens – von Polanski über Lynch bis Shyamalan und Fincher – reicht Sletaune deshalb kaum heran. Als beklemmende Abhandlung über das Verhältnis von Wahrnehmung und Wirklichkeit funktioniert Babycall nicht zuletzt dank der gewohnt intensiven Darstellung von Noomi Rapace aber durchaus.
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