Kritik zu 35 Rum
Meist erzählen ihre Filme von der Sehnsucht nach fernen Welten, von der Erfahrung des Andersseins. Diesmal jedoch muss Claire Denis Paris kaum verlassen, um vom Reisen und Ankommen zu erzählen
In manchen Filmen fällt einem auf, wie viel in ihnen geraucht wird, wie oft gegessen oder häufig Türen verschlossen werden. In diesem wundert man sich, wie viel gelächelt wird. Mit einem sanften Lächeln quittieren die Figuren die Alltagsbotschaften, die ihnen die Anderen hinterlassen. Voller Genugtuung und Nachsicht belächeln sie deren Gewohnheiten, die vertrauten Rituale und Ermahnungen des Zusammenseins. Dieses Lächeln wirkt nicht amüsiert und erst recht nicht fröhlich, aber dennoch ist es lebensbejahend. Aus ihm spricht die Gewissheit, dass die Anderen noch da sind.
Verschwiegen macht uns die Kamera eingangs mit der Reihe von Figuren bekannt, in deren Gemeinschaft wir den Rest des Films verbringen werden. Erst allmählich enthüllt sie uns, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Abseits vom Gare du Nord schaut der Lokführer Lionel (Alex Descas) abends, versonnen rauchend, den Vorortzügen nach. In einem von ihnen kehrt seine Tochter Joséphine (Mati Diop) vom Unterricht heim. Unter den Figuren, die sich die Kamera aus dem Heer der Heimkehrenden achtsam heraussucht, sind auch die Taxifahrerin Gabrielle (Nicole Dogué) und Noé (Grégoire Colin), von denen wir bald erfahren, dass sie im gleichen Haus wie Vater und Tochter wohnen. Das Arrangement der Erzählstränge in Denis' neuem Film erinnert zunächst an »Ich kann nicht schlafen«, in dem sie von lose verbundenen Schicksalen in Paris erzählte. Aber »35 Rum« gibt sich rasch als ein wehmütig-utopischer Gegenentwurf zu erkennen: Er schmiedet sein Figurenensemble zu einer Einheit zusammen, einem Kreis der Eingeweihten. Was sie verbindet, schildert die Regisseurin mit vertrauter Wortkargheit und stimmungsvoller Lakonie. Sie schürt die Ahnung, dass es die Versehrtheit ihrer aller Leben ist. Wenn sie sich voneinander verabschieden, dann mit den Worten: Gib auf dich acht.
Das Milieu, in das der Film seinen Blick versenkt, besteht fast exklusiv (mit Ausnahme von Noé) aus Parisern, deren Vorfahren aus den ehemaligen Kolonien in Übersee stammen. Die koloniale Vergangenheit zieht sich seit ihrem Regiedebüt »Chocolat« als eine unerlöste Heimsuchung durch das Werk der Regisseurin, das Fremdsein ist die zentrale Erfahrung ihrer Protagonisten. In »35 Rum« scheint beides überwunden. Das Figurenensemble ist integriert, es hat Wurzeln geschlagen, ist angekommen in der französischen Gesellschaft. Agnès Godards Kamera hat kaum einen Blick für die Weißen, die Paris bevölkern.
Die Mobilität, die Sehnsucht nach dem Anderswo, die stets eine Triebfeder im Werk dieser reise- und entdeckungsfreudigsten unter den französischen Regisseurinnen waren, stehen in »35 Rum« (wie schon in »Vendredi Soir«, ihrem verkannten Meisterwerk des atmosphärischen Erzählens) nurmehr unter Vorbehalt. Vielmehr erzählt sie von den Fährnissen der Sesshaftigkeit.
Das Verharren ist der Grundimpuls dieser verschworenen Gemeinschaft, die Suche nach der Geborgenheit im Vertrauten. Der Blick der Kamera bleibt geduldig auf das Schauspiel alltäglicher Verrichtungen konzentriert, den Interieurs eignet eine Klaustrophobie, die so unaufdringlich ist, dass man ihr gar nicht erst entrinnen mag. Denis' Figuren wollen festhalten an dem, was ist, was einmal war. Es schreckt Joséphine, sich ein anderes Leben als an der Seite des Vaters vorzustellen. Die patente Taxifahrerin liebt Lionel immer noch, lässt sich auch durch seine abweisende Schroffheit nicht entmutigen. Lionels Kollege René mag bei seiner Verabschiedung in den Ruhestand zwar von Erlösung sprechen und behaupten, von nun an würden ihm Flügel wachsen. Aber ohne seine Arbeit und die Kollegen hat sein Leben den Sinn verloren; er wird es auf einem der Gleise beenden, über die er Jahre lang Züge steuerte. Nur einmal, gegen Ende des Films, findet eine Reise statt. Sie führt nach Lübeck, in die Vergangenheit: Lionel und Joséphine besuchen seine Schwieger- und ihre Großmutter (Ingrid Caven), die von ihrer verstorbenen Tochter erzählt. Dieser Todesfall ist in Denis' Film kein verdrängtes Trauma, das im Nachhinein alles erklärt, sondern etwas, das vor langer Zeit geschehen ist und die Lebenswege seither geprägt hat.
»35 Rum« erzählt dies mit einer fast heiteren Gelassenheit. Denis' Kino der gesteigerten Sinneseindrücke, der sehnsuchtsvoll studierten Virilität, hat eine ungekannte Reife erreicht. Was wir vom Älterwerden der Regisseurin erfahren sollen, erzählt uns die Selbstverständlichkeit, mit der ihr inzwischen sacht ergrauter Lieblingsdarsteller Alex Descas in sich ruht. Der Besuch am Grab der Ehefrau und Mutter leitet einen notwendigen Abschied ein: Lionel und Joséphine begreifen nun, dass er sie freigeben, dass sie sich ablösen muss. Die Forderung des Lebens ist unabweisbar. Wenn sie am Ende Noé heiratet, dem sie insgeheim schon lange versprochen war, ist es so, als bliebe alles in der Familie. Die Gemeinschaft bricht nicht auf, sie hat nur einen heilsamen Lernprozess durchlaufen. Das Lächeln hat nicht getrogen.
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