Die schönsten Farben der Nacht

Kleine Labels pflegen das etwas andere Filmerbe

»Mondo Candido« (1975)

Quentin Tarantino hat sie schon immer geliebt: die bizarren, intensiven, selten jugendfreien Genrefilme der Europäer. Wo er die herhatte, wissen wir nicht. Aber es gibt heute bei uns eine hoch aktive Szene von Kleinlabels, die vergessene und verlegte Filme nicht nur retten, sondern anspruchsvoll edieren

Sammler von Genrefilmen haben es in Deutschland nicht leicht, zumal, wenn sie sich für das europäische Genrekino der 1960 und 1970er Jahre interessieren – Filme, die als Inspirationsquellen für Quentin Tarantino oder Dominik Graf eine neue Popularität errungen haben. Dazu gehören zynisch-staubige Italo­western, erotisierte Giallo-Thriller, Soft-Sex-Melodramen aus Frankreich, wütende Polizeifilme und harte Horror­filme aus Frankreich, Spanien, Italien. Es war die Zeit vor dem Heimkino, als man seine Spannungsunterhaltung noch in kleinen, oft schäbigen Kinocentern suchte: Kinos, die in den USA heute als »Grindhouses« legendär geworden sind. Um die bizarre Schönheit dieser Genrefilme zu entdecken, reicht selten der Gang ins nahe Medienkaufhaus. Dafür hat sich in Deutschland und Österreich ein Netzwerk ambitionierter, hoch aktiver Labels etabliert, das nicht nur Genreklassiker auf dem Niveau der Zeit aufbereitet, sondern zudem vergessene Perlen wiederentdeckt und mit so aufwendigem Bonusmaterial präsentiert, als habe man es mit einer Orson-Welles-Sonderedition zu tun.

Die Geschichte dieser kleinen Cinephilen-Labels begann in der ausgehenden Ära der VHS-Kassette mit Firmen wie Astro, die sich bemühten, im Grauzonenbereich des Jugendschutzes ungekürztes Genrekino verfügbar zu halten, das durch die Entscheidungen von FSK und BPjM einer Öffentlichkeit meist vorenthalten wurde. Doch erst eine Dekade nach der Einführung der digitalen Disc gelang es einer junge Generation von Filmfans, ihre Träume von der »ultimativen Edition« selbst umzusetzen.

Mit fast schon heroischer Gelassenheit bringt etwa Camera Obscura seit einigen Jahren eine inzwischen mehr als 14 Teile umfassende »Italian-Genre-Collection« heraus, in der sich die unterschiedlichsten Werke finden, fast alle in deutscher Erstauf­lage, manche davon waren hier zuvor nie zu sehen. So kann man Jacopettis und Prosperis Voltaire-Adaption Mondo Candido entdecken, die ungekürzt in verschiedenen Sprachfassungen und Originalformat geboten wird sowie einen analytischen Audiokommentar enthält. Ein eher obskurer Film erscheint in einer Form, in der man sich auch Klassiker der Majorstudios wünschen würde, doch die sparen oft gerade am Bonusmaterial. Reizvoll bei Camera Obscura ist auch die Entdeckung des stimmungsvollen Psychothrillers Un bianco vestito per marialè von Romano Scavolini, der ebenbürtig veröffentlicht wurde – mit Kommentar, Booklet, Doku, Trailer und zudem verpackt in einem Digipack mit Pappschuber. Auf gleichbleibendem Niveau lässt das Label solche Sammlerträume wahr werden. Jüngst ist es mit dem Gothic-Thriller The Killer Reserved Nine Seats von Giuseppe Bennati auch ins Blu-ray-Geschäft eingestiegen.

Eher künstlerisch ausgerichtet ist das Kölner Label Bildstörung, wo aktuell gerade eine Box mit Filmen von Alejandro Jodorowsky erschienen ist – auch hier hat man schon länger die Wahl zwischen dem Standard- und High-Definition-Format. Höhe­punkte der Reihe »Dropout« sind Andrzej Zulawskis Horrormelodram Possession, Agustí Villarongas stylisher Psychothriller Im Glaskäfig und Walerian Borowczyks delirierender psychosexueller Alptraum La bête. All diese Filme erscheinen mit dicken Booklets, informativen Dokus und Kommentaren – früher wäre man schon froh gewesen, wenn man diese Filme überhaupt hätte sehen können, so selten waren sie.

Eher auf den Eurowestern spezialisiert ist Explosive Media. Auch hier gibt man sich Mühe, seltenes Bonusmaterial aufzutreiben und druckt auf dem Cover meist die nostalgisch-schönen, gemalten Filmplakate der 1960er und 1970er Jahre ab. Einige Titel kann man zusätzlich als Blu-ray bekommen – leider gilt das nicht für zwei vielgesuchte Meisterwerke: Joseph Loseys apokalyptischen Actionthriller Im Visier des Falken und John Frankenheimers japanisches Schwertkampfdrama Wenn er in die Hölle will, lass ihn gehen. Beide sind weltweit exklusiv hier erschienen und punkten zumindest mit erstklassigem Bild und beigelegten Essays.

Das auf Genreklassiker seit den 1950ern spezialisierte Label Anolis ist seit Jahren aktiv. Von Beginn an setzte man auf Studioreihen wie die »Hammer Collection«, in der liebevoll ausgestattete Gothic-Horrorklassiker aus England erscheinen. Jüngst präsentiert man diese Edition auch als atemberaubende Blu-rays, mit umfassendem Bonusmaterial (zeitgenössische Dokus, Interviews, Kommentare, Booklets, Comics). Gerade hat man den Werwolfklassiker Der Fluch von Siniestro mit Oliver Reed im Programm, der wie viele andere auf 650 Stück limitiert ist.

Eine der erstaunlichsten Firmengeschich­ten hat ’84 Entertainment hinter sich, benannt nach dem Film Die Klasse von 1984. Von einem jungen Filmenthusiasten gegründet, verkaufte es zunächst lediglich neu verpackte Discs in Zweitlizenz. Mit dem Studioprogramm von Troma sowie einer exklusiven Kooperation mit 20th Century Fox baute man sich eine ansehnliche Kollektion auf, in der jüngst etwa aufwendige Mediabooks von Die Fliege und Das Omen erschienen. Das Schmuckstück des Labels aber wird die ultimative 4-Disc-Box von Dario Argentos Horrorklassiker Suspiria, die in allen möglichen Fassungen, mit Kommentar, 52 Seiten Booklet und Soundtrack geboten wird (im Oktober). Pünktlich zum Start wurde zudem die Indizierung des Films aufgehoben.

Der Undergroundfilmemacher Andreas Bethmann schuf sich vor über einer Dekade mit X-Rated ein Labelstandbein, mit dem er nicht nur eigene, sondern vor allem klassische Genrefilme aus Europa seit 1960 zugänglich macht. Anfangs aufgrund der manchmal bescheidenen Bildqualität kritisiert, hat sich X-Rated mit seinen charakteristischen »VHS-Nostalgieboxen« zu einem »Haus der vergessenen Filme« entwickelt. So findet man dort neben Antonio Margheritis Space-Opera Wild Wild Planet Duccio Tessaris Gangsteropus I Bastardi in einer ungekürzten Fassung. Ein Schwerpunkt liegt – wie bei vielen – auf den stilisierten italienischen Gialli, sowie auf Nonnen- und Hexenfilmen. Ein Höhepunkt der Kollektion ist aktuell der feministische Historienfilm Flavia – Leidensweg einer Nonne von Gianfranco Mingozzi, allerdings unter dem Bahnhofskinotitel Nonnen bis aufs Blut gequält. Erstmals kann man dieses intensive Werk ungekürzt in High Definition erleben.

Eher durchwachsen ist das Programm des süddeutschen Labels Donau Film, das einen Schwerpunkt auf Erotikfilme der 1970er Jahre bis heute legt und drei in Deutschland lange vergessene Filme von Alain Robbe-Grillet zugänglich macht. In diesem Fall, etwa bei Eden und danach, mit einem dicken Booklet, einer alternativen Schnittfassung und einer Interview­dokumentation.

Und aus Österreich beliefert uns XT Video seit Jahren mit verfemten Perlen der großen Namen: Dario Argento und Lucio Fulci. Mit der Blu-ray-Ära rüstete man ebenfalls auf zum Mediabook mit Essays, Audiokommentaren und Aushangfotos.

Im Berliner Hause Media Target versammeln sich unterschiedliche Labels und Sublabels, die ihre eigenen Schwerpunkte kultivieren. So hat sich Subkultur auf die Wiederentdeckung verfemter Klassiker spezialisiert: Vilgot Sjömans Jugenddrama »491« ragt hier heraus, erschienen in der »Edition Grauwert« und ausgestattet mit alternativer Fassung und einem analytischen Kommentar. In der Reihe »Drive In-Classics« findet sich Roger Cormans Anti-Rassismus-Drama Weisser Terror mit William Shatner. Ebenso findet sich bei Target das Label FilmArt, das aktuell den vergessenen Marlon-Brando-Thriller Am Abend des folgenden Tages veröffentlicht hat. Ansonsten hat sich FilmArt auf Polizeifilme und Gialli aus Italien spezialisiert, die vergleichbar liebevoll ausgestattet werden. Ebenfalls seit vielen Jahren in Berlin tätig ist CMV, ein Label zwischen B-Horror und Queer Cinema, dessen Schmuckstück Pasolinis Teorema geworden ist.

Wer nun Lust auf diese wahr gewordenen Cinephilen-Träume bekommen hat, sollte sich vor allem im Internet umsehen, denn aufgrund der strengen Limitierungen erreichen die wenigsten dieser Veröffentlichungen die Medienkaufhäuser. Aber auch die nächste Videobörse sollte Gelegenheit bieten, zu erleben, wie aktiv und ambitioniert der deutsche Genrefilmmarkt auf DVD und Blu-ray heute ist.

Marcus Stiglegger hat für zahlreiche deutsche und internationale DVD-Labels Bonusmaterial produziert.

Meinung zum Thema

Kommentare

Werbung in eigener Sache? Zu vielen dieser DVDs hat der Autor selbst die Audiokommentare und Begleittexte erstellt..

Als Autor möchte ich direkt auf diese Anmerkung antworten: In der Druckversion dieses Artikels ist eine Notiz angefügt, in der auf diesen Umstand explizit verwiesen wird, der ohnehin für jeden nachvollziehbar ist. Ich schreibe in dem Artikel über die Labels, nicht über meinen bescheidenen Beitrag zu einigen Veröffentlichung. Ich würde hier ohnehin eher von Insiderkompetenz sprechen. Und ich werde auch zukünftig intensiv Bonusmaterial produzieren - und zugleich darüber schreiben. Ich sehe da kein Problem - im Gegenteil. Mit freundlichem Gruß

Den betreffenden Zusatz haben wir jetzt ergänzt, der Fehler lag da bei der Übertragung des Print-Artikels (Heft 10/14, S.32-33) in die elektronische Form. Wir bitten um Entschuldigung

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