Cannes: Die Eingeschworenen

»Kinds of Kindness« (2024). © Atsushi Nishijima

In Berlin sind die Filme oft politischer, in Venedig ist die Inszenierung exklusiver – aber wenn man ablesen will, wie es um das Filmgeschäft als solches steht, dann gibt es keinen besseren Spiegel als das Festival von Cannes. Auf den ersten Blick signalisiert das Wettbewerbsprogramm in diesem Jahr, dass es zumindest um das europäische Autorenkino nicht schlecht bestellt sein kann.

Vertreten ist es durch die übliche Mischung aus Cannes-Stammgästen: Da ist der Grieche Yorgos Lanthimos, der gerade erst bei den Oscars für »Poor Things« gefeiert wurde und nun bereits seinen neuen Film »Kinds of Kindness« präsentiert. Da ist die Britin Andrea Arnold, in deren Film »Bird« die Titelrolle der deutsche Starschauspieler Franz Rogowski übernommen hat. Der Italiener Paolo Sorrentino, dessen Oscar-Gewinn für »La grande bellezza« schon etwas her ist, stellt »Parthenope« vor, wo Gary Oldman mit einem Ensemble populärer italienischer Stars wie Stefania Sandrelli und Isabella Ferrari agiert.

Besonders stark vertreten ist bei dem am Dienstag startenden Festival wie üblich das französische Kino mit fünf Filmen, unter anderem von Jacques Audiard, Christoph Honoré und Michel Hazanavicius, auch er ein Oscar-Gewinner (»The Artist« 2012), dessen Erfolg schon etwas zurückliegt. Ebenfalls wie gehabt wurde kein deutscher Film ausgewählt.

Ergänzt findet sich diese bewährte Mischung traditionsgemäß mit ein paar Größen aus Nordamerika. Regie-Legende Francis Ford Coppola kommt mit seinem lang erwarteten Werk »Megalopolis« nach Cannes, in das der 85-Jährige dem Vernehmen nach nicht nur Herzblut, sondern auch eigenes Vermögen investiert hat. Paul Schrader, mit 77 einer der großen Individualisten des amerikanischen Kinos, bringt die Literaturadaption »Oh, Canada« an die Croisette, für die er nach »American Gigolo« vor über 40 Jahren erneut mit Richard Gere drehte. Der Kanadier David Cronenberg, 81, stellt seinen Horrorfilm »Shrouds« vor.

Das Konzept, für das Cannes seinen guten Namen hat, ist also klar erkennbar: die nahtlose Verbindung von Filmkunst, Star-Glamour und kommerziellem Kino. Es deuten sich aber auch gewisse Krisenanzeichen an. Dass die wirklich großen Namen wie Coppola, Cronenberg und Schrader alle das Rentenalter lang überschritten haben, gehört dazu. Die Tatsache, dass erneut nur vier Regisseurinnen Eingang in die Wettbewerbsauswahl von 22 Filmen gefunden haben, lässt sich immerhin damit verschönern, dass ihr Altersdurchschnitt deutlich darunter liegt.

Und noch andere Statistiken bereiten Sorgen: Auch wenn niemand mehr etwas von Corona hören will, haben die Kinobesucherzahlen selbst im cinephilen Frankreich noch nicht wieder das Niveau von 2019 erreicht. Die Erholung der letzten Jahre ist aktuell durch die Folgen des Schauspieler- und Autorenstreiks vom vergangenen Jahr gefährdet, durch den sich der Start vieler großer Titel um Monate verzögert. Und noch eine Tendenz aus Covid-Zeiten scheint sich zu verstetigen: die Konzentration auf den »Inner Circle« von Europa und Hollywood. Ein einziger Film aus China (Jia Zhangkes »Caught by the Tides«), eine indische (Payal Kapadias »All We Imagine as Light«) und eine brasilianische (Karim Aïnouz' »Motel Destino«) Koproduktion vertreten nun etwas einsam das Weltkino, wo früher asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Filme regelmäßig Highlights setzten.

Umgekehrt ließe sich dieses 77. Festival von Cannes geradezu feiern als der Jahrgang der Koproduktionen. Schließlich machen sie Filme wie »The Seed of the Sacred Fig« des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof möglich, der gerade in seiner Heimat zu Peitschenhieben und acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sein Film läuft als iranisch-deutsch-französische Produktion. Dank der Zusammenarbeit von Frankreich, Italien und Spanien konnte auch der russische Regisseur Kirill Serebrennikov, inzwischen im Exil lebend, seinen Film »Limonov« realisieren, in dem nun der Brite Ben Whishaw die Titelrolle des berüchtigten russischen Autors und Radikalen verkörpert.

Wie politisch es bei dem am 25. Juni endenden Festival tatsächlich zugehen wird, ist nicht abzusehen. Cannes ist im Protokoll legendär streng, für überraschende politische Verlautbarungen gibt es kaum Gelegenheit, eventuelle Protestler werden meist in eine Zone weit entfernt vom Festival-Palais verbannt. Das für die französische Filmbranche heikelste Thema der letzten Zeit, der Umgang mit einer ganzen Reihe von #Metoo-Anklagen, findet sich durch einen Kurzfilm von Judith Godrèche gleich in die Eröffnungsveranstaltung am Dienstagabend eingebunden.

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