Cannes: Schlechte Menschen und die Frage der guten Kinohelden
Die von roher Gewalt geprägte Kehrseite des American Dream auf die Leinwand zu bringen, gehört zum Markenzeichen von Martin Scorsese. Sein neuester Film »Killers of the Flower Moon« stellte die wohl meist erwartete Premiere im diesjährigen Cannes-Programm dar und wirft einen Blick auf das für Scorsese bislang unbekannte Terrain der amerikanischen Ureinwohner, in diesem Fall ein Reservat des Osage-Stammes. Auf deren einst ärmlichem Gebiet wurde 1897 Öl gefunden, das aus ihnen für kurze Zeit die Amerikaner mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der USA machte.
Der Reichtum – Scorsese illustriert ihn mit einer Mischung aus originalen und nachgestellten Archivaufnahmen – zog naturgemäß viel Gier und Missgunst an. Unter anderem kam es zu einer bis heute nie ganz geklärten Mordserie, in der zwischen 20 und 100 Osage-Angehörige vergiftet, verbrannt oder hinterrücks erschossen wurden. Die örtliche Polizei sah tatenlos zu. Erst das von Edgar J. Hoover frisch gegründete FBI konnte zumindest einen Teil der Taten aufklären und in einem weißen Viehrancher den Hauptverdächtigen dingfest machen.
Scorsese verfilmt den Stoff mit Leonardo DiCaprio und Robert de Niro in den Hauptrollen. De Niro spielt »Onkel« Hale, der sich »King« nennen lässt und ein Image als engster Freund und Sponsor der Osage-Menschen von sich geschaffen hat. Hinter der Wohltätigkeitsfassade aber arbeitet er ruchlos daran, deren Erbrechte an den Ölquellen durch Einheirat und Morde an sich zu bringen. Als leicht manipulierbarer Kriegsheimkehrer dient ihm dabei der von DiCaprio verkörperte Ernest Burkhart, dessen einfaches Gemüt leicht auszubeuten ist. Hale dirigiert ihn in Richtung der Osage-Erbin Mollie (Lily Gladstone), in die sich Ernest tatsächlich verliebt. Die Liebe wird ihn nicht davon abhalten, an der Ermordung von Mollies Schwestern und Mutter mitzutun, aber sie bleibt das emotionale Zentrum des Films, der nicht immer den richtigen Ton findet.
Scorsese erzählt mit der Geste und dem Atem eines altmodischen Westerns, in dem wenige Gute mit einem Arsenal von »Bösen« unterschiedlichster Schattierung um den Aufbau einer Zivilisation ringen. Trotz herausragender Darsteller – Lily Gladstone verleiht ihrer Mollie mit majestätischer Zurückhaltung große Wucht – und dem bestem Willen gelingt es Scorsese jedoch nicht, die alte Voreingenommenheit des Westerns zu überwinden: Die Osage-Menschen bleiben Nebenfiguren, während im Zentrum De Niro und DiCaprio die emotionale Komplexität maskuliner Rohheit aufblättern dürfen.
Ein Porträt der Schlechtigkeit des Menschen ganz anderer Art ist Jonathan Glazers Ausschwitz-Drama »Zone of Interest«. Der britische Regisseur steigt mit seinem lose auf Martin Amis gleichnamigen Roman beruhenden Film zum absoluten Favoriten auf die Goldene Palme auf.
Glazers Film beginnt mit idyllischen Aufnahmen einer badenden Familie an einem Fluss. Frisuren und Kleidung zeigen an, dass man sich in den 40er Jahren befindet, es wird deutsch gesprochen. Und dann sieht man, gleich hinter der schönen Villa der Familie, den berüchtigten Wachturm von Auschwitz, dazu Mauer und Stacheldraht des Konzentrationslagers. Doch der Blick der Kamera bleibt konzentriert auf das bürgerliche Idyll von Rudolf und Hedwig Höß, die ihre fünf Kinder in diesem »Paradies«, wie die zu Besuch kommende Schwiegermutter es bezeichnet, aufwachsen lassen.
Sandra Hüller verkörpert diese Hedwig Höß als biedere, leicht grobe Hausfrau, die ihr Leben mit Angestellten und gelegentlichen Paketen von nebenan zu genießen weiß. Woher der Pelzmantel stammt, den sie da auspackt, blendet sie genauso aus, wie den »Hintergrundlärm« aus Schüssen und Schreien von jenseits des Zauns. Christian Friedel spielt den berüchtigten KZ-Kommandeur Rudolf Höß mit ähnlich gleichgültiger Nonchalance als den ganz auf seine Sekundärtugenden der Pflichterfüllung konzentrierten Funktionär des Todes.
Mit kalter Präzision führt Glazer vor Augen, was Kompartmentalisierung heißt, um sie an kleinen, bewussten Stellen aufzubrechen. Hedwig, die fast wahnhaft ausblenden kann, droht einer Angestellten mal durchaus kundig damit, die Asche ihrer Angehörigen verstreuen zu lassen. Als Rudolf beim Flussbaden auf ein Gebein stößt, muss hinterher aufwendig Desinfektion betrieben werden. Der inzwischen fast banalen These von der Alltäglichkeit des absolut Bösen, dass auch Massenmörder liebende Familienväter waren, stellt Glazer mit seinem eiskalten Blick etwas entgegen. Vor allem auch dank einer herausragenden Filmmusik von Mica Levi sorgt »Zone of Interest« für eine nachhaltige Irritation und Verstörung.
Mit »Indiana Jones und das Rad des Schicksals«, der wie »Killers of the Flower Moon« außer Konkurrenz lief, feierte wie als Gegenprogramm einer der letzten ungebrochen »positiven Helden« des amerikanischen Kinos eine Rückkehr auf die Leinwand. Der Film beginnt mit einer längeren Sequenz, in der der 80-jährige Harrison Ford mittels Tricktechnik sich selbst von vor 40 Jahren spielt, doch löst sie eines der Hauptprobleme des heutigen Hollywood nicht wirklich, nämlich dass zu wenig junge Kinostars nachwachsen. Die Britin Phoebe Waller-Bridge (»Fleabag«) gibt sich als »Indys« Patentochter zwar alle Mühe, doch das Genre Abenteuerfilm braucht weit mehr neue Akzente, als Regisseur James Mangold sie hier zu setzen vermag.
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