Cannes: Erfolgs-Rituale
Tradition wird großgeschrieben auf dem Filmfestival von Cannes. Das gilt nicht nur für Rituale wie die »montée des marches«, den Roten Teppich vor dem Festivalpalast, dessen 24 Stufen die Stars erklimmen müssen, um ins Kino zu kommen. Es gilt besonders für den jährlichen Wettbewerb um die Goldene Palme, in dem stets gleich mehrere Regisseure antreten, die schon einmal gewonnen haben.
In diesem Jahr gab es vier mit der Chance auf eine zweite Palme, und einen, den Briten Ken Loach, der am Samstag sogar seine dritte gewinnen könnte. Die besten Aussichten darauf, in den Club der Doppel-Gewinner aufzusteigen, aber werden in den letzten Tagen des Festivals dem deutschen Regisseur Wim Wenders zugesprochen.
Es ist fast 40 Jahre her, dass Wenders für »Paris, Texas« die Goldene Palme gewann. In den letzten Jahrzehnten gelangen dem 77-Jährigen zwar einige große Erfolge mit Dokumentarfilmen (»Buena Vista Social Club«, 1999, und »Pina«, 2011), aber seine Spielfilme enttäuschten. Mit seinem neuen Film »Perfect Days« aber überraschte er an der Croisette: Einen so einfachen wie emotional berührenden, so ernsten wie gleichzeitig spielerischen Film hatte von Wenders niemand mehr erwartet.
Die Idee zum Film soll Wenders angesichts eines Bauprojekts zu den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gekommen sein. Bekannte Architekten entwarfen eine Serie von höchst individuell und spektakulär gestalteten öffentlichen Toiletten. Diese Bauten sind der Arbeitsort von Hirayama, der vom japanischen Schauspieler Koji Yakusho verkörperten Hauptfigur in »Perfect Days«.
Wenders folgt dem Toiletten-Putzmann durch seinen von Ritualen geprägten Alltag. Man sieht Hirayama beim Aufstehen, Zähneputzen, wie er sich einen Kaffee vom Automaten herauslässt, wie er zur Arbeit fährt, mit welcher Sorgfalt er beim Putzen vorgeht und in welchen Imbissen und Schnellrestaurants er zum Essen einkehrt. In seiner Freizeit liest er oder fotografiert mit einer altmodischen Analog-Kamera. Spät im Film wird der Gleichlauf seiner Tage durch die Ankunft seiner Nichte gestört, die daraus folgenden kleinen Turbulenzen bieten einen kleinen Einblick in die Herkunft und die Motive dieses einsamen, aber vielleicht auch glücklichen Mannes.
Wenders' Film ist dialogarm, aber regt gleichzeitig zu vielen Gedanken an, er verbindet kontemplative und romantische Elemente, enthält ein paar verrückte Ideen und setzt mit einem ausschließlich westlichen Soundtrack von Nina Simone bis Velvet Underground wunderbare Kontrastpunkte. An der Croisette mit sehr viel Zustimmung aufgenommen, gehört »Perfect Days« zu jenen Filmen, die man sich gut auf der Liste der Jury unter Vorsitz von Ruben Östlund vorstellen könnte. Mehr noch als eine Palme für Wenders aber scheint die Asuzeichnung von Hauptdarsteller Koji Yakusho als bester männlicher Darsteller wahrscheinlich.
Die höheren Wetten auf den Hauptpreis liegen nämlich in diesem Jahr bei zwei Regisseuren, die noch nicht vorher gewonnen haben. »The Zone of Interest« des Briten Jonathan Glazer , in dem er mit kaltem Blick das unheimlich-gemütliche Leben des KZ-Kommandanten Rudolf Höß und seiner Familie gleich neben dem Vernichtungslager seziert, erschütterte auch das Glamour-Publikum von Cannes nachhaltig. Die formale Disziplin, mit der Glazer vom Holocaust erzählt erscheint preiswürdig.
Grandiose erzählerische Disziplin zeigt auch die Französin Justine Triet in ihrem Gerichtsdrama »Anatomie d'une chute«, in dem eine berühmte Schriftstellerin sich gegen die Anklage verteidigen muss, am Unfalltod ihres erfolglosen Ehegatten beteiligt gewesen zu sein. Sowohl Glazers als auch Triets Film werden dabei in erster Linie von einer Schauspielerin getragen, der Deutschen Sandra Hüller, die ihre Kunst und Vielfalt einmal mehr vor Augen führt. Hüller, die 2016 für ihren grandiosen Auftritt in »Toni Erdmann« übergangen wurde, war mit diesem Doppelauftritt der herausragende Star des diesjährigen Wettbewerbs. Es wäre eine große Überraschung, sollte sie noch einmal leer ausgehen.
Neben Wenders kann sich unter den Veteranen auch der Finne Aki Kaurismäki noch Chancen auf eine Auszeichnung ausrechnen. Mit »Fallen Leaves« drehte er zwar eher ein Remake seines eigenen Frühwerks als einen neuen Film, er kam aber so gut an, dass ihm ein Jury-Preis oder ähnliches sicher scheint.
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