Wettbewerb: »Never Rarely Sometimes Always«
Wenn ein Film über die Leinwand flackert, in dem die Bilder als die urkinematografische Ausdrucksform schlechthin mehr zu sagen vermögen als es Worte jemals tun könnten: Dann wird die Analogie von Film und Sprache, konkret: die filmische Sprache sehr greifbar. Das ist die Kunst des Kinos: mit Bildern erzählen.
Mit »Never Rarely Sometimes Always« startet ein Film in den Wettbewerb, der diese Sprache ganz famos beherrscht. Sundance-Gewächs Eliza Hittman hat sich mit ihren beiden vorherigen Filmen »It Felt Like Love« und »Beach Rats« den Ruf als eine der aktuell aufregendsten Independent-Regisseurinnen erarbeitet. Und ihr neuer Film gehört ganz sicher zu den großen Favoriten dieses 70. Berlinale-Jahrgangs.
»Never Rarely Sometimes Always« ist die Geschichte einer Abtreibung. Ein viel zu lange stigmatisiertes Thema, das Hittmans Film zu einem brandaktuellen macht. Man schaue sich, um ein deutsches Beispiel anzuführen, nur den Fall jener Gießener Frauenärztin an, die auf ihrer Webseite auf die Möglichkeiten vorzeitiger Schwangerschaftsabbrüche hingewiesen hat und dafür verurteilt wurde. An dem Fall ist ein bitterer Diskurs um die Möglichkeiten der Bewerbung von Abtreibungen entbrannt.
Hittman geht das Thema allerdings nicht von gesellschaftlicher Seite her an, sondern von einem persönlichen Schicksal. Ihr Kino ist das der Menschen. Das gilt für »Never Rarely Sometimes Always« mehr denn je. Der Film folgt der 17-jährigen Autumn und ihrer Cousine Skylar bei einer intimen Odyssee durch New York. Die beiden Frauen, fantastisch gespielt von den Newcomerinnen Sidney Flanigan und Talia Ryder, sind aus dem ländlichen Pennsylvania in die Metropole gekommen, weil die ungewollt schwangere Autumn abtreiben will.
Wie schon in »Beach Rats«, arbeitete Hittman wieder mit der großartigen Hélène Louvart zusammen. Die französische Kamerafrau braucht keine Beauty Shots oder sonstige visuelle Spielereien. Ihre Bilder sind suchende, sie sind unaufdringlich und sensibel, changieren mühelos zwischen Naturalismus und zutiefst filmischen Momenten. Autumn wird immer wieder leinwandfüllend herangeholt, ihr Gesicht mit geringer Tiefenschärfe aus der Umgebung herausgeschält. Dadurch können wir lesen: vom Schmerz der Frau, der etwas widerfahren ist, von ihrer Gewissheit, bei der Entscheidung zu bleiben. Die Hintergründe der Schwangerschaft bleiben im Vagen.
Der Film braucht wenige Worte. Die Verbindung der beiden Frauen ist ab dem Zeitpunkt klar, ab dem Skylar Bescheid weiß. Ein schweigendes Einvernehmen. Und so folgen wir ihnen durch die Straßen der Großstadt, vorbei an Abtreibungsgegnern, hinein in die Praxen mit den Apparaturen und den Menschen, die tagtäglich mit Schwangerschaftsabbrüchen zu tun haben. Der Filmtitel bezieht sich auf einen Fragenkatalog, der vor dem Eingriff abgehandelt wird. Auf Fragen wie »Waren sie schon einmal sexueller Gewalt ausgesetzt?« gilt es dann zu Antworten: Niemals, selten, manchmal, immer. Der Moment, in dem Autumn diese Fragen gestellt bekommt, gehört zu den emotionalsten im Film.
»Sogar eine kleine Berührung kann verletzen. Ich wollte die Zuschauer mit Bildern in die Situation der Frauen versetzten« erklärte Hittman bei der Pressekonferenz. Im Film tätschelt einmal ein fremder Mann wie selbstverständlich eine Schulter. Hittman braucht nicht mehr als dieses Bild um zu sagen: eine Grenze wurde überschritten.
Ob man Hittman jetzt als die »feministische Filmemacherin« feiern sollte, ist eigentlich nebensächlich. Ihre Kunst, dieser Film, spricht für sich: Niemand hat sich bisher dem Thema Abtreibung auf derart ehrliche, harte, rührende und vielschichtige Art und Weise genähert.
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