Die Vorstadthölle
Festival heißt: Jeden Tag hinein in den Tunnel, Filme weg bingen und wenig von der Außenwelt mitbekommen. Bei den vielen, vielen unterschiedlichen Filmen freut man sich vor allem über Szenen, die sich einbrennen. Denn diese bilden schließlich, zusammengehalten durch eine geistige Montage, den ganz persönlichen Festivalrückblick.
Genau eine solche Szene gab es heute im Wettbewerb zu sehen. Darin beobachtet die Kamera gefühlte Minuten lang einen auf dem Bett liegenden Vater. Dessen Augen haben zuvor unten in der Wohnung das Schlimmste gesehen. Er hat sich zurückgelegt in das Ehebett, als würde sich dadurch das Grauen verflüchtigen oder als grausamer Traum entpuppen. Er schwitzt, die Hitze steht im Raum, als seine Frau sich rührt und schließlich aufsteht. Und während wir sie hören, wie sie die Treppe hinabsteigt, warten wir mit dem Vater auf das Unvermeidliche. Es vergehen weitere Ewigkeiten, der Mann bebt, die Augen weit aufgerissen. Und dann, später als erwartet, dringt er von unten durchs Haus: der alles zerreißende Schrei.
Es ist eine Szene gegen Ende des Films »Favolacce« (Bad Tales) von Fabio und Damiano D'Innocenzo. Ein seltsamer, schwer zugänglicher, auf allen Ebenen irritierender Film. Zu Beginn erzählt ein Mann aus dem Off, er habe das Tagebuch eines Mädchens entdeckt. Er sei, entgegen seines Plans, nur die unbeschriebenen Seiten zu verwenden, an den Ausführungen hängen geblieben. Und da diese, ohne ersichtlichen Grund oder Ansage, einfach abreißen, schreibe er darauf eine eigene Geschichte weiter.
Und genau diese Geschichte ist es, die wir in flirrenden, sommerlichen Farben zu sehen bekommen. »Favolacce« ist eine bitterböse Satire ohne klassische dramaturgische Linien und wirklichen empathischen Anker. Eine undefinierte Bedrohung schwelt den gesamten Film über mit, verstärkt durch einen immer wieder ins Dissonante kippenden Score.
Da sind Väter und Mütter, die von den eigenen Ansprüchen aufgefressen werden und den Druck an ihre Kinder weitergeben. »Geschichte 1+, Sport 1+, Benehmen 1+« rezitieren die Geschwister Dennis (Tommaso Di Cola) und Alessia (Giulietta Rebeggiani) dem Besuch ihre Zeugnisse. Die Tochter müsse noch an sich arbeiten, erklärt der Vater wegen der 1 in Benehmen. Er drängt die Kinder, frisst mit notgeilen Blicken und verachtenden Sprüchen eine Nachbarsfrau zumindest vor dem geistigen Auge auf. Und weint los, nachdem der Sohn sich einmal gefährlich am Essen verschluckt.
Die hochschwangere Nachbarstochter raucht und säuft und macht dem kindlichen Dennis unmoralische Avancen, als der ihr beim Straßenflohmarkt etwas abkaufen will. Ein blasser und dürrer Mitschüler wohnt mit seinem Vater, einem Taugenichts, in einer improvisierten Hütte am Dorfrand. Auch sein alter Herr ist ein Paradebeispiel für toxische Männlichkeit, dabei aber nicht von Grund auf unsympathisch.
Eigentlich aber ist »Favolacce« ein Film der Kinder, ein Film über Kinder in der Sackgasse. Sie machen uns ebenso ratlos wie ihre Eltern, wollen vielleicht Kinder sein, können es aber nicht. Besagter Leistungsdruck und frühsexuelle Versuche unterminieren das zumindest weitestgehend. In der Schule lernen sie, Bomben zu bauen.
Was zur Hölle geht da vor sich? Man bleibt ratlos, ist der distanzierte, aber doch angefixte Zuschauer des Treibens in der sengenden italienischen Vororthitze. Es wird einen Knall geben, sogar beinahe einen buchstäblichen. Ein verstörend-faszinierendes Treiben ist das. Und am Ende auch eine Reflexion über das Erzählen. Denn der Erzähler entschuldigt sich für die Geschichte. Aber erzählt wurde sie dennoch. Zum Glück, so unbehaglich der Film auch macht.
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