Das Geheimnis ihrer Unruhe
Émilie Dequennes Karriere fing rastlos und mit Schmerzen an: dem Bauchweh, das Rosetta mit dem warmen Luftstrahl ihres Haartrockners zu betäuben versucht. Wortlos legt sie sich auf ihr schmales Bett und wartet selbstverloren ab, bis es allmählich nachlässt. Der Film weiht uns nicht ein, woher die Schmerzen kommen – es könnten ihre Regelblutungen sein –; er ist verschlossen, setzt nur auf die Evidenz der Situationen. Aber er lässt erahnen, dass in Rosettas Welt sonst kein Platz ist für Wärme. Ihr Leben ist ein unaufhörlicher Krieg. Das junge Mädchen ficht ihn als Einzelkämpferin aus, darf nicht mehr Kind sein, übernimmt gegenüber ihrer alkoholkranken Mutter eine Elternrolle.
Sie rennt gegen eine Festung an. Das Reich, zu dem sie sich Zutritt verschaffen will, ist die Arbeitswelt. Einer geregelten Beschäftigung nachzugehen ist ein Traum, den sie mit unfassbarer Besessenheit verfolgt. In der ersten Szene wehrt sie sich so heftig gegen ihre Kündigung, dass sie mit Polizeigewalt abgeführt werden muss. Ihre Unbedingtheit lässt sich durch keine Absage entmutigen. Die Handkamera begleitet Rosetta nicht, sondern hetzt ihr nach, als sei allein schon durch atemlose Nähe etwas zu begreifen. Aber sie gibt sich der Kamera nicht widerstandslos preis; selten gewährt eine Großaufnahme die Chance nachzuspüren, was diesem Gesicht zugestoßen ist. Sie hat ein Überlebenssystem entwickelt, mit dem sie sich nicht zuletzt gegen das Schreckensbild der verwahrlosten Mutter wehrt. Wie verbissen sie daran festhält, ist kaum erträglich. Die Brüder Dardenne haben den Film mit einer fesselnden, nachgerade autistischen Konzentration gefilmt: Rosetta ist nur in sich selbst verwurzelt.
Was für ein Debüt! Für diese Figur, die so ganz anders ist als die Opfer sozialer Kälte, die sonst auf der Leinwand um unser Mitgefühl buhlen, brauchte es eine ganz besondere Darstellerin: hingebungsvoll, furchtlos, von ungeschliffener Energie. Eine, die sich der Kamera aussetzt und sich in ihrem Taumel behauptet. In den nächsten 25 Jahren verkörperte Émilie Dequennee rund 50 Film-, Fernseh- und Serienrollen. Dequenne, die am Sonntag im Alter von nur 43 Jahren einem seltenen Krebsleiden erlag, hat ihre Zeit genutzt. Die Belgierin avancierte zu einer der größten Darstellerinnen ihrer Generation. Umgehend stellte sie ihre Vielseitigkeit unter Beweis, strahlte in Christophe Gans' Kostüm-Action-Horrorfilm „Der Pakt der Wölfe“ 2001 eine spezielle Art von Anmut aus. Ein Jahr später bewies sie unter der Regie von Claude Berri ihr komödiantisches Talent. 2006 erhielt sie ihre erste César-Nominierung für die Nebenrolle in „Die Frau des Leuchtturmwärters“. In „Die Möbius-Affäre“ trat sie neben Jean Dujardin und ihrer Landsfrau Cécile de France als Geheimagentin auf. Für „Leichter gesagt als getan“ gewann sie unter der leichtfüßigen Regie von Emmanuel Mouret 2020 den César als Beste Nebendarstellerin.
Ein Luftgeist des Kinos war sie indes nie. Ihre Figuren waren fest in der Realität verankert. Sie besaß die Anmutung einer kleinen Schwester oder sympathischen Nachbarin, aber in ihr konnten Abgründe klaffen. In „Á perdre la raison“ von Joachim Lafosse zeigt sie als Kindesmörderin jene heillose Unbedingtheit, die ihr Leinwanddebüt prägt. Nie wirkte sie unscheinbar und war gerade deshalb ausnehmend glaubhaft in proletarischen Rollen; angefangen mit der Putzfrau in Berris „Laura wirbelt Staub auf“. In „Pas son genre“ (Nicht mein Typ) von Lucas Belvaux trifft sie als muntere Friseurin auf einen Philosophiedozenten. Sie hat noch nie etwas von Kant gehört und verschlingt lieber Romane von Anna Gavalda. Derlei Mesalliancen gehen eigentlich nie gut aus, aber Belvaux lässt sich ins Schlepptau nehmen vom Temperament seiner Heldin, die sich dem Leben auf Augenhöhe stellt. 2017 besetzte der Regisseur sie erneut. In „Chez nous“ (Das ist unser Land), wo Belvaux das Jagdrevier des (damaligen) „Front National“ nach Flandern verlegt, spielt sie eine ihrer markantesten Rollen: als ambulante Pflegerin, die sich dank der Einflüsterungen eines honorigen Arztes (André Dussollier) als Kandidatin für das Amt der Bürgermeisterin aufstellen lässt. Dequennes Pauline gehört auf den ersten Blick nicht zur klassischen Klientel von Rechtspopulisten. Sie erscheint, darauf legt Belvaux nachdrücklich Wert, ungemein „gesund“, ist eine liebevoll alleinerziehende Mutter und fürsorgliche Tochter. Ressentiments sind ihr fremd, ihren Patienten widmet sie sich vorurteilslos. Aber als Krankenpflegerin kämpft sie an vorderster Front, kennt Leid und soziale Missstände aus alltäglicher Erfahrung.Sie muss vorerst nur das Gesicht ihrer Partei sein; ihr Wahlprogramm wurde schon vor der Nominierung geschrieben. Eine spannungsvolle Besetzung: Die Arglose zu spielen, wird für die klug energische Dequenne anfangs womöglich ziemlich unbefriedigend gewesen sein.
Aber „Chez nous“ demonstriert, dass es auf ihre Charaktere immer ankommt,. Sie zählen, sind oft der Angelpunkt der Filme; selbst in Nebenrollen. Besonders beeindruckt hat sie mich 2009 in „La Fille du RER“ von André Téchiné, wo sie neben erfahreneren Partnern wie Deneuve und Michel Blanc besticht. Nein, sie ragt heraus. Téchinés Film lehnt sich an eine wahre Begebenheit an, die 2004 Schlagzeilen machte: Eine junge Frau behauptet, in einem Pariser Vorortzug das Opfer eines antisemitischen Übergriffs geworden zu sein. Er geht er dem Rätsel des Weshalb auf den Grund, ohne eine Erklärung zu behaupten. Gewiss, sie hegt eine Sehnsucht nach Berühmtheit. Und die Familien in diesem Film sind liebend zerrüttet. Um sich dem Geheimnis ihrer Unruhe zu nähern, findet Téchiné einen Weg zwischen Psychologie und Soziologie: den des atmosphärischen Begreifens. Gestern Abend schaute ich mir den Film aus traurigem Anlass noch einmal an. Dequenne bleibt versclossen wie in "Rosetta", aber sie weckt eine Ahnung. Vielleicht sind die Beweggründe ganz woanders zu finden sind, in ihrem Blick auf die Baumwipfel vor ihrem Fenster oder auf die Wolken über einem See.
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