Aus Sieben wird Zwei

Wie Täter angeblich immer zum Tatort zurückkehren, suchen auch Filmemacher bisweilen gern alte Drehorte wieder auf. In Savannah, wo Clint Eastwoods jüngster Film »Juror No 2« angesiedelt ist (gestern bei uns angelaufen), hat er bereits 1997 einen seiner untypischsten Filme gedreht, »Mitternacht im Garten von Gut und Böse« gedreht. Erstaunlich, wie tief sich sein Blick damals in Topographie und Folklore der Stadt versenkte.

Auf den ersten Blick hätte der neue Film auch anderswo spielen können. Die Wahl von Drehorten hat ja nicht nur mit deren Aura und Fotogenie zu tun.Oft spielt auch das finanzielle und logistische Entgegenkommen der staatlichen Filmkommissionen eine Rolle. Eastwoods »Der Fall Richard Jewell« spielt ebenfalls im diesbezüglich freigiebigen Peachtree Country Georgia, was indes unweigerlich durch die reale Geschichte vorgegeben war, die sich während der Olympischen Spiele zutrug, die 1996 in der Hauptstadt Atlanta veranstaltet wurden. Der realistische Romantiker in mir vermag in der Rückkehr ins beschauliche Savannah allerdings ein Stilprinzip des Filmemachers entdecken: die Neugier auf die Vielgestaltigkeit seines Heimatlandes. Man sieht zwar nicht viel von der Stadt, aber ihre eigentümlicher Atmosphäre ist in »Juror No 2« spürbar. Es ist ein Ort, in dem die Geister der Vergangenheit nicht ruhen, sondern höchst agil weiter wirken.

Ein Geist, den Warner Bros anscheinend gern ruhen lassen würden, heißt „Le Septième Juré“ (Der siebte Geschworene). Es handelt sich um einen Roman des ziemlich produktiven Krimiautors Francis Didelot, der 1958 in Frankreich erschien und die uneingestandene Vorlage für Eastwoods tückischen Justizthriller liefert. Die Parallelen sind so frappierend, dass eine Plagiatsklage wohl gute Aussichten hätte. Diese Ähnlichkeit besteht vor allem in der unwiderstehlichen Ausgangssituation – ein Geschworener soll über ein Verbrechen zu Gericht sitzen, das er selbst verübt hat -, aber eben auch der handlungstragenden Komplikation, dass der Juror alles daran setzt, einen Freispruch für den Anklagten zu erwirken.

Ich würde gern wissen, wer aktuell die Rechte am Buch besitzt, denn es hat eine bewegte Stoffgeschichte, zu der drei offizielle Verfilmungen gehören. 1962 kam in Frankreich die erste Adaption in die Kinos, bei der Georges Lautner Regie führte. Ein Jahr später wurde der Roman als die Folge „The Star Juror“ der Anthologieserie „The Alfred Hitchcock Hour“ adaptiert. 2007 lief eine Fernsehverfilmung, in der Jean-Pierre Darroussin die Titelrolle spielt und die sich in einigen Punkten von der Kinoversion unterscheidet. Unter anderem nimmt sie den historischen Hintergrund des Algerienkrieges stärker in den Blick. Eigentlich wäre der Roman auch eine Steilvorlage für den mittleren bzw. späteren Chabrol gewesen, denn in seinem Zentrum steht ein mörderisch angepasster Kleinbürger.

Gelegentlich lief „Der siebte Geschworene“ auf arte, in den letzten Jahren aber nicht mehr. In dieser Woche kam endlich die Blu-ray bei mir an. Der Film ist in jeder Hinsicht erstaunlich. Aus dem Werk des Regisseurs, der sich einen Namen vornehmlich mit Krimi- und Actionkomödien gemacht hat, ragt er dank seiner grimmigen Ernsthaftigkeit heraus. Auf keinen anderen Film war er so stolz. Das Projekt ging allerdings auf die Initiative seines Stars Bernard Blier zurück, der den Roman entdeckte und den Dialogautor Pierre Laroche ins Spiel brachte, der als Mitarbeiter Jacques Préverts begonnen hatte. Die Adaption besorgte Jacques Robert, ein wendiger und auf dem Terrain des Film Noir zuweilen brillanter Szenarist. Bliers Sohn, der gerade verstorbene Regisseur Bertrand, fungierte als Regieassistent und berichtet im Bonusmaterial ausführlich von den Dreharbeiten. Dank der Besetzung, dem Milieu und der französischen Prozessordnung unterscheidet er sich maßgeblich von dem Drehbuch, das Jonathan Abrams für Eastwoods Version schrieb. Wie so häufig bei diesem Regisseur handelt es sich um ein Buch, das bereits einige Jahre im „turnaround“ befand, also von Studio zu Studio weitergereicht wurde. Im Interview mit „Indiewire“ erwähnt Abrams den Roman mit keinem Wort, sondern nennt stattdessen „Mystic River“ als eine Inspirationsquelle.

Während „Juror No 2“ die Ereignisse und ihre Konsequenzen in der Ambivalenz hält, ist in „Der siebte Geschworene“ von Anfang an klar, dass der bisher unbescholtene Apotheker Gregoire Duval der wahre Schuldige ist. In einem Anfall sexualisierten Wahns erdrosselt er die junge Provinzschönheit Catherine, eine für die damalige Zeit ungemein freizügige Szene. Das Bonusmaterial enthält eine alternative Montage für den Export enthalten, in der die Blöße des barbusigen Opfers züchtig bedeckt ist. Wie bei Abrams/Eastwood fällt der Verdacht auf deren Freund, da ein Zeuge zuvor einen Streit des Paars mit angehört hat. Während „Juro No 2“ über Gerechtigkeit und Wahrheit reflektiert, handelt die Erstverfilmung von Schuld und später von gesellschaftlicher Verfemung. Der innere Monolog des Täters, in dem er seinen unbegriffenen Mordimpuls überdenkt, lässt den Film zu einer einzigen, fortdauernden Beichte werden. Einmal legt er gar in einer Kirche tatsächlich die Beichte ab, vorsichtshalber in der nahegelegenen Schweiz. Er tut dies vielleicht weniger, um Vergebung zu erlangen, sondern in der Hoffnung, dass der Priester die Behörden informiert. Der Film wirft ein abgründiges, schonungsloses Schlaglicht auf die stickige Enge der Provinzgesellschaft, wo sich pfeiferauchende Honoratioren wortreich in der eigenen Wohlanständigkeit suhlen. Beinahe jeder Teilnehmer der rituellen Bridgepartie, zu der man sich allwöchentlich trifft, war auf seine Weise von der aufreizenden Catherine besessen.

Für Blier, dessen 50. Leinwandauftritt das war (von insgesamt 185, die er zwischen 1937 und 1989 absolvierte), ist dies eine Glanzrolle. Sein Regisseur und er selbst haben begriffen, dass er als ein repräsentativer Darsteller besetzt werden muss. Wohlbeleibt und mit einer Stirn, die so hoch ist, dass sie bis zum Hinterkopf reicht, verleiht er dem Kleinbürger archetypische Gestalt. Seine gediegene Existenz ist längst eine Fassade geworden, die dfem Einreißen harrt. Seinem properen Familienleben wohnt er nurmehr bei. Ein französischer Jedermann, beinahe so, wie Nicholas Hoult ein amerikanischer ist? Der begreift sich, trotz allem, im Kern als einen guten Menschen. Beide haben ihre Geheimnisse, kennen ihre Fehlbarkeit. Bliers Duval jedoch hat seine Zukunft schon hinter sich.

Da es sich in „Der siebte Geschworene“ eindeutig um einen Mordfall handelt, steht 1962 in Frankreich noch die Todesstrafe im Raum. Im Vorfeld des Prozesses verkündet Duval mehrfach öffentlich, dass er den Angeklagten für unschuldig hält. Vor einem amerikanischen Gericht hätte er sich damit als Geschworener disqualifiziert. Der erfolgsgewisse Staatsanwalt akzeptiert ihn jedoch, nicht zuletzt aus sportlichem Ehrgeiz. Duval hat kein Monopol auf Perversion. Bei der Verhandlung legt der Geschworene Nr. 7 sich mächtig für den Angeklagten ins Zeug. Wie die anderen sitzt er auf der Bank des Richters und hakt unaufhörlich nach, stellt mehr Fragen als die Anwälte, bestellt Zeugen erneut ein, durchlöchert sodann ihre Aussagen. Das Schwurgericht stellt eine ganz andere Art von Öffentlichkeit dar als in der US-Justiz. Es gibt keine Beratung der Geschworenen hinter verschlossenen Türen, alles findet vor den Augen und Ohren des im Saal versammelten Publikums statt. Duval exponiert sich dabei so sehr, dass seine Ehefrau misstrauisch wird. Anfangs hegte sie noch die Hoffnung, seine Verpflichtung als Geschworener (kurios, ich will immer „Schöffe“ schreiben!) könne ihm eventuell den Weg zu einer politischen Karriere ebnen.

Der mörderische Kleinbürger wächst über sich hinaus. Duval veranlasst das Gericht sogar, den Tatort erneut in Augenschein zu nehmen. Die lange Kamerafahrt, die der Reihe der Geschworenen und Richter am Seeufer musternd folgt, ist brillant in ihrem atmosphärischen Zugriff. Am Tatort gelingt es Nr. 7. endgültig, Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu schüren. Duval ist ein gewiefter Manipulator. Seine Frau, die am Ufer wie ein Gespenst auftaucht, täuscht er nicht. Mit dem Freispruch ist nichts gewonnen. Der Angeklagte und der wahre Täter bleiben unerlöst. Keine Staatsanwältin mit unruhigem Gewissen weit und breit. Einige Volten hält das Drehbuch noch bereit. Aber die ehrbare Gesellschaft schließt ihre Reihen. Duval wird, wie einst die Protagonisten von Eastwoods gedankenschweren Western, damit leben.

Das gilt übrigens auch für die Einwohner des Drehortes. Die Stadt Pontarlier gibt es tatsächlich. Ich nahm an, sie trage auf der Leinwand einen fiktiven Namen – so schonungslos, wie der Film mit ihren Notablen ins Gericht geht. Aber die Bürger nicht an, wie im Bonusmaterial zu erfahren ist. Sie haben so gute Erinnerungen an die Dreharbeiten, dass sie deren 50. Jubiläum mit einem großem Fest feierten. So tief können Missverständnisse sein, auch ohne Ambivalenz.

 

 

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