Weniger Briefe, mehr Dialoge, aber immer noch ein Telegramm
Kressmann Taylor hat „Adressat unbekannt“ mit wuchtigem, unbestechlichem Minimalismus konstruiert; ihre Briefnovelle arbeitet konsequent mit der Aussparung und dem Vorenthalten von Informationen. Welches Genre würde diesem Konstruktionsprinzip im Kino am ehesten entsprechen? Der Thriller? Wenn ja, müsste er dann mit Suspense oder aber Überraschung operieren?
In „Address unknown“ ist das kein Entweder-Oder. Die Drehbuchautoren mussten vor allem hinzuerfinden, es genügte nicht, einfach in Szenen zu übertragen, was in den Briefen der Vorlage berichtet wird. Keine Ahnung, ob dem Produzenten Sam Wood klar war, worauf er sich einließ, als er die Filmrechte erwarb. Bei Bestsellern beruht solche Eile ja oft auf einem Missverständnis, einer naiven Gleichung: Was einmal erfolgreich war, kann es auch beim zweiten Mal sein.
Zuerst wurde Lester Cole mit der Adaption betraut. Für diese Aufgabe hatte er sich zweifellos mit dem Drehbuch zu „None shall escape“, den André de Toth ebenfalls 1944 für die Columbia gedreht hatte. Auch darin erzählt Cole die Geschichte eines Mannes, der zum glühenden Nationalsozialisten wird, diesmal jedoch infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg, die er als Demütigung und Verrat am Militär empfindet. Der Film ist ganz ungeheuerlich. Er entwirft die Zukunftsvision einer Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und nimmt sowohl die Nürnberger Prozesse wie die Gründung der Vereinten Nationen vorweg. Er ist in Rückblenden erzählt, mithin als Herleitung der Barbarei, und wirft einen damals präzedenzlosen Blick auf die Gräuel des Holocaust. Ein zweieiiger Zwilling von „Address unknown“ nicht zuletzt darin, als auch er eine Prestigeproduktion mit dem Budget eines B-Pictures ist.
Cole veränderte die Personenkonstellationen erheblich. Aus Max' (Morris Carnovsky vom „Group Theatre“) Schwester Griselle wird nun dessen Tochter (K.T. Stevens, die Tochter des Produzenten)), die mit Martins Sohn Heinrich (Peter van Eyck mit noch dunklem Haarschopf!) verlobt ist. Auch in „None shall escape“ wird eine Hochzeit mit fatalen Konsequenzen aufgeschoben. Dieser Erzählstrang wirkt anfangs reichlich hanebüchen - sie will für ein Jahr nach Europa gehen, um dort Schauspielerin zu werden, und erstreitet sich flugs eine Hauptrolle in Berlin? Bald gewinnt er aber bestrickendes Gewicht. Griselle tritt in einem Mysterienspiel in der Manier Max Reinhardts auf und setzt sich, als mutige Arglose im Ausland, über die Zensur hinweg. Sie spricht die inkriminierten Sätze, die aus der Bergpredigt stammen, und löst damit einen Skandal aus. Eine maßgebliche Ergänzung der Novelle ist die Figur von Martins Nachbarn, des Barons von Friesche (Carl Esmond ist so wunderbar ölig wie in Langs „Ministerium der Angst“). Er verkörpert die faschistische Verlockung, die in der Vorlage ein schleichendes Gift war. Ob diese Rolle von Cole geschrieben wurde, ist nicht ganz klar. Im Vorspann wird als alleiniger Drehbuchautor Herbert Dalmas genannt, der ansonsten kaum Substantielles geschrieben hat (eine Menge Unfug sogar), aber immerhin an King Vidors „An American Romance“ und dem trefflichen Mantel&Degen-Stück „Die Liebesabenteuer des Don Juan“ mitwirkte.
Der Film legt ein enormes Tempo vor; ihm genügen dicht gewirkte 75 Minuten. Flink wechselt er zwischen San Francisco und Nazideutschland und zieht sarkastische Analogien. Während Max und Heinrich sich um Griselles Schicksal sorgen, feiert Martin die Taufe seines siebten Sohnes, der den Vornamen Adolf trägt. Bei der Feier erhält er das verhängnisvolle Telegramm. Die Montage unterstreicht den Kulturschock, den das Publikum erleben soll. Ein Motiv der Novelle verschwindet hierbei schonungsvoll. Max streicht Martins Namen (im Film Schulz) aus dem Geschäftslogo aus Rücksichtnahme auf seine vorwiegend jüdische Kundschaft. Die Szenenfolge konzentriert sich weitgehend auf den Empfang der Briefe. Das Drehbuch weiß, was es der Vorlage schuldig ist. Allerdings vertauscht sie später die Korrespondenten. Martin schreibt an seinen Sohn Heonrich, der ihm fortan antwortet. Max bleibt ahnungslos, was mit seinem alten Freund geschieht. Damit ist dramaturgisch nicht viel hinzugewonnen.
Gleichwohl entwickelt sich der Film in seinem letzten Drittel zu einem paranoiden Thriller. Er ist wahrhaft packend. Das Klingeln des Postboten versetzt Martin tagtäglich in Angst und Schrecken. Es entscheidet über Wohl und Wehe seiner Existenz, über Leben und Tod. Bald eilt er selbst zum Briefkasten, kommt dem Diener hastig zuvor, um seine transatlantische Verbindung zu verbergen. Aber die Zensoren lesen eben fleißig mit. Ernst Tochs Partitur, die eingangs ein wenig zu treuherzig unterstreicht, was vor der Kamera geschieht, entwickelt nun eine nervenaufreibende Eindringlichkeit. Sie ist fast so gut wie die Musik, die er für „None shall escape“ komponierte. Und die Schwärze in Rudy Matés Bildern wird so solide und das Weiß so verzweifelt und unerbittlich, wie James Curtis schrieb.
Lester Cole landete später, ebenso wie Carnovsky und Mady Christians, auf der Schwarzen Liste. Er war einer der Hollywood Ten. Dass in der Schlusseinstellung von „None shall escape“ unter den Flaggen der Vereinten Nationen stolz die der Sowjetunion weht, war nun unverzeihlich. Die Hexenjagd auf Kommunisten übte gründliche Vergeltung für das (relativ) liberale Klima der Roosevelt-Ära. Den Autoren und Regisseuren der Anti-Nazi-Filme wurde jetzt „voreiliger Antifaschismus“ vorgeworfen. Das mag einer der Gründe sein, weshalb „Adress unknown“ jahrzehntelang einen blinden Fleck markierte.
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