Vermitteln, was vor Augen liegt
Auch er bereut es heute oft, einen Verriss geschrieben zu haben. Es geniert ihn, seinerzeit so vom Leder gezogen zu haben. Eigentlich müsste man erklären, warum ein Film schlecht ist. Und auch das Missglückte verdient manchmal Respekt, zumindest aber ein besonnenes Urteil. Überheblichkeit ist in jedem Fall fehl am Platze, findet Paolo Mereghetti.
Nach seiner Ansicht sollte der Kritiker immer einen Schritt zurücktreten: Er ist nicht so wichtig wie das Werk, über das er schreibt. Er steht nicht über ihm, er hat keinen Anlass, herab zu blicken. Manche Filmkritiker hätten sich diese Haltung als Image zurechtgelegt, etwa seine berühmte Kollegin Pauline Kael. Der Italiener hingegen ist überzeugt, dass seine Aufgabe eine ganz andere ist.
Mit dem „auch“ zu Beginn dieses Eintrags hat es seine Bewandtnis. Im nächsten werden sie es merken. Der sollte diesem ursprünglich vorausgehen, aber ich habe die Reihenfolge flugs umgekehrt. Eigentlich müsste ich zuerst von der Podiumsdiskussion über Filmkritik erzählen, die vorgestern in der Akademie der Künste stattfand. Von der lesen Sie morgen. Ich fange mit der Fortsetzung an. Manche Produzenten träumen schließlich auch davon, zumindest in Theaterstücken von David Mamet, das Sequel drehen zu können, ohne sich die Mühe des Originals zu machen. So viel Chuzpe habe ich zwar nicht. Aber auch ich mache es mir vorerst mal einfach. Bevor es also deutsch und kompliziert wird, berichte ich von dem Grundlegenden.
Darüber war gestern Abend eine Menge zu erfahren im Italienischen Kulturinstitut in Berlin, das im Vorfeld der Berlinale Paolo Mereghetti eingeladen hatte. Im Gespräch mit der Leiterin, Marina Carolina Foi, zeigte er sich als vergnügter Vertreter eines Gewerbes, das nach seiner Einschätzung aussterben wird. Das ist für ihn kein Grund aufzuhören – er ist längst im Rentenalter, aber nach wie vor eine der Stimmen in der italienischen Kritik, die den größten Nachhall haben. Die klassischen Medien, namentlich Tageszeitungen wie der „Corriere della sera“, für den er schreibt, haben zwar an Leserschaft und hat damit auch die Kritik an Spielraum verloren. Aber von Nutzen bleibt sie in seinen Augen nach wie vor: Sie ist, wie die Kunstkritik allgemein, unabdingbar für die Bildung. Seinen Zugriff auf die Welt hat sie jedenfalls erweitert. Er hat aufmerksam Claudio Magris, Goffredo Fofi und andere gelesen, weil sie ihm ein Fenster öffneten, manchmal auch eine Tür. Nach wie vor liest er begierig Texte von Kollegen, braucht er die Sicht der anderen, um einen Film besser zu begreifen.
Damit wäre die Frage des Abends, „Perché ancora critica cinematografica?“ im Prinzip schon mal beantwortet. Aber da sein deutscher Titel, im Schlepptau von Schiller, noch ein wenig gespreizter ist - „Was heißt und zu welchen Ende schreibt man noch Filmkritik?“ - kann es getrost weitergehen. Denn im „noch“ klingt eine Bedingtheit an, vielleicht eine Frist, die sich nicht abweisen lässt. So gewissenhaft, wie dieser Kritiker ist, kann er das nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Ich kenne Paolo seit vielen Jahren. Wir saßen oft zusammen in der Kritikerrunde von Michel Ciments Radiosendung „Projection privé“, wo wir uns nicht selten verschworen haben gegen die Meinungsführung unseres Gastgebers. Der pflegte seine Säulenheiligen unbedingt zu verteidigen – aber ein enttäuschender Angelopoulos blieb für uns eben ein enttäuschender Angelopoulos. Paolos Ansichten und Hintergrundwissen über die italienischen Beiträge auf der Berlinale waren stets hilfreich für mich (auch für dieses Jahr warnte er vor zu hohen Erwartungen). Bei einem Symposium in Mailand über Giovanni Guareschi, den Erfinder von Don Camillo und Peppone, konnte ich miterleben, wie er die italienische Übersetzung meines Vortrags (über die deutsche Rezeption der Romane und Verfilmungen) beim Vorlesen beherzt aus dem Stegreif kürzte. Diese Geistesgegenwart fand ich bewundernswert. Gekränkt hat sie mich nicht; in der Buchveröffentlichungen blieb der Text schließlich unangetastet. Ich war ohnehin bereits entwaffnet, als er mich am Mittag davor in ein Restaurant in der Nachbarschaft der „Corriere“-Redaktion ausführte, wo es das beste Risotto alla milanese der Stadt gab. Auch diesmal gab es keinen Grund, an seinem Urteil zu zweifeln.
Gestern Abend jedoch habe ich viele neue Seiten an ihm entdeckt, darunter seine ursprünglichen Berufswünsche, entweder Bibliothekar oder Grundschullehrer zu werden. Seinem besonnenen Temperament hätten diese Wahlmöglichkeiten durchaus entsprochen. Jedoch besitzt er jene Art von Extrovertiertheit, die ein eigentlich zurückhaltender Mensch von Berufs wegen entwickelt. Er scheut die Öffentlichkeit nicht, in Italien steht er in ihr, und auch an diesem Abend wusste er, was er dem Publikum schuldig war. Es war nicht unerfahren. Immerhin meldeten sich später auch Stimmen zu Wort wie die eines jungen Sizilianers, der von Alexander Sokurows „Faust“ zur Cinéphilie bekehrt wurde. Welche Bedeutung ein politisch engagiertes. kämpferisches Kino gegenwärtig haben kann, wurde ausführlich an „Green Border“ von Agnieszka Holland und „Io capitano“, dem neuen Film von Matteo Garrone diskutiert.
Davor legte Paolo die Parameter seiner Arbeit dar. Er hat zunächst Kunstgeschichte studiert und von Ernst Gombrich gelernt, wie man prägnant das Werk eines Künstlers darstellen kann. Seinen Abschluss hat er jedoch in Philosophie gemacht, mit einer Dissertation über Orson Welles (das Summa cum laude verfehlte er, weil das Thema den Prüfern zu wenig philosophisch erschien). Die „Wundmale des Hegelianismus“ blieben jedoch „an seinen Händen“ - der begeisterungsfähige Simultanübersetzer Johannes Hampel traf seine Verve genau -: Vom ersten Satz an muss ein Text für ihn zielstrebig sein. Einen Stil muss man sich erlauben können, aber er muss im Dienst dessen stehen, was es zu sagen gibt über ein Kunstwerk. Eine Kritik verlangt Erzählgabe, sie ist ein unverzichtbares Werkzeug. Die Leserschaft braucht Anknüpfungspunkt, ihr Appetit muss geweckt werden. Der Kritiker unterstützt sie dabei, besser hineinzufinden in das Werk, das vor Augen liegt. Den Beruf wählt man nicht, weil man schreiben will. Andernfalls könnte man schließlich Schriftsteller werden. Kritiken schreibt man aus der Überzeugung, etwas weiter zu geben zu müssen, was der Kunst wesenhaft ist. Die Grenzen, die das klassische Feuilleton setzt, begrüßt er. Wenn er nur 4000 Zeichen oder gar 500 zur Verfügung hat, hält ihn dies an, knapp und präzise zu sein. Für die raumgreifenden Möglichkeiten des Internet ist dieser Kritiker verloren. Die Ausschweifung liegt ihm éinfach nicht
Bald und dann ziemlich beharrlich nahm das Gespräch eine Wendung, die auf den ersten Blick von der ursprünglichen Fragestellung hinweg führte. In Italien ist Paolo weltberühmt für seine Enzyklopädie des Kinos, die längst in Fach- und weiteren Kreisen „Il Mereghetti“ genannt wird. Die erste Ausgabe erschien 1993 und umfasste rund 11000 Einträge. Sie verkaufte sich glänzend – 60000 Exemplare in der ersten Auflage. Seither aktualisiert er sie stetig. Inzwischen sind es über 35000 Einträge. Anfangs hat er das spätere Standardwerk in Angriff genommen mit Blick auf das explodierende Privatfernsehen. Die neuen Sender zeigten ohne Unterlass Spielfilme, weil das die einfachste und billigste Lösung war, um die Programmplätze zu füllen. Es bedurfte der Orientierung in einer unüberschaubaren Fülle. In Zeiten der Streamingplattformen also nötiger denn je.
Der „Mereghetti“ erscheint immer noch strikt in analoger Form, trotz der explodierenden Kosten, auf Seidenpapier und in unverwüstlicher Bindung– ein Buch lässt ein anders neugieriges Lesen zu, man schaut sich eben auch die Einträge in der Nachbarschaft an. Umberto Eco bekam Herzrasen, wenn er es las und bat den Autor, ein Beruhigungsmittel beizulegen. Auch Paolos Hautarzt hadert mit seinen Urteilen: Nur zwei Bälle (statt Sternen) für „Jules und Jim“, aber in dem Punkt lässt er sich nicht beirren. Rechenschaft legt er sich trotzdem unaufhörlich ab, denn die Filme verändern sich mit der Zeit. „Man's favourite sport“ (Ein Goldfisch an der Angel) von Hawks hält heute seinem Blick nicht mehr stand. Die Anzahl der Bälle wechselt behände. Mereghettis Gesprächspartnerin, deren Sohn bei der Lektüre das Verfassen von Inhaltsangaben lernte, ist erschüttert über seinen wohlwollenden Blick auf die Bond-Saga. Doch, erwidert er, mit Sean Connery hat sie eine gewisse Größe erreicht. Inzwischen hat er natürlich längst Mitautoren. „Tenet“ von Christopher Nolan haben sie sich zu dritt angesehen, um ihn zu verstehen. Und manche Filme gewinnen hinzu. Es ist wie mit den Weinen, einige werden ungenießbar, während andere ihre Fülle entfalten. „La vita agra“ von Carlo Lizzani, darüber freute ich mich besonders, bekam ursprünglich einen Ball. Nun hat er ihn wieder gesehen und entdeckt, dass dies einer der wenigen italienischen Filme ist, der wahrhaft vom Boom erzählen kann und der die Nouvelle Vague wirklich verstanden hat. Also drei Bälle. Und da Sokurows „Faust“ dem Sizilianer so gut gefallen hat, schlägt Paolo ihn zum Ende rasch nach: ebenso viele. Das Publikum war es zufrieden. Die Filmgeschichte kann weitergeschrieben werden.
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