Tschaikowsky war kein Einzelfall
Heute vor einem Jahr starb Glenda Jackson. Die Todesnachricht kam damals zur Unzeit; zumindest für epd Film. In der Monatsmitte ist der Redaktionsschluss meist schon erreicht und das aktuelle Heft voll. Damit mochte ich es seither nicht bewenden lassen. Für eine Hommage an eine große Schauspielerin ist es nie zu spät.
Im vergangenen November konnte das hiesige Publikum von ihr Abschied nehmen, als »In voller Blüte« herauskam. Das war ihr zweiter Film als Partnerin von Michael Caine, mit dem sie sich 1974 beim ersten, »Die romantische Engländerin«, überhaupt nicht verstanden hatte. Künstlerische Differenzen waren nicht der Grund, sondern politische: Jackson, die später 23 Jahre lang für Labour im Unterhaus saß, geriet in Rage, wann immer der Tory-Parteigänger seine erzkonservativen Ansichten zum Besten gab. Dabei waren beide stolz auf ihre proletarische Herkunft! Ein halbes Jahrhundert später schlossen sie Waffenstillstand. Bei »In voller Blüte« (nebenbei: ein toller D-Day-Film) zogen sie künstlerisch an einem Strang. Dabei werden aber auch ihre unterschiedlichen Auffassungen von Starruhm deutlich: Caine tritt mit blendendem Zahnersatz in Erscheinung, sie ohne.
Jackson fing auf der Bühne und im Kino als weibliches Gegenstück der zornigen jungen Männer an, die nach der Suezkrise in England Furore machten. Ihre Figuren waren nobody's fool. Sie waren patent, oft scharfzüngig und nicht selten hartgesotten. Die Drehbuchautoren standen sozusagen in der Pflicht, ihr denkwürdige Sätze in den Mund zu legen. In Konversationskomödien oder -dramen war sie eine flinke Florettfechterin. Die Absurditäten des Lebens amüsierten sie, gegen dessen Zumutungen setzte sie sich gewitzt zur Wehr. Ihre Mundwinkel umspielte ein spöttischer Lebenshunger. Zu einem Abenteuer war sie durchaus aufgelegt. Allerdings wirkte sie nicht kapriziös, sondern nonchalant, denn ihr Antlitz verriet britische Strenge. Ihre Schönheit war herb, fast schroff. Die Wangenknochen waren hoch, die Augen blitzten unternehmungslustig oder zornig. Ihr war ein breites Spektrum der Affekte ins Gesicht geschrieben.
In »Liebende Frauen«, für den sie ihren ersten ihrer zwei Oscars erhielt, ist sie 1969 ein Wildfang im Erwachsenenalter. Furchtlos fordert sie das Schicksal heraus, tanzt mit einer Herde wilder Stiere und redet so großspurig daher wie die Männer. Ihre Stimme klingt wissend. Sie verstand genau, was D.H. Lawrence im Roman und Ken Russell im Regiestuhl durch den Kopf ging. Ihre Figuren rüttelten, gleichviel ob in historischem Ambiente oder der Gegenwart, an den Gittern der Konventionen. In beiden Registern waren es neurotische, moderne Frauen. In »Sunday, Bloody Sunday« und »Die romantische Engländerin« scheint sie eine frühe Oxfam-Kundin zu sein.
Es ist ein einzigartiges Schauspiel, ihren Charakteren bei der Durchsetzung ihre Wünsche zuzuschauen. Sie gehen in die Offensive. "You're a beautiful woman, god, I'm glad I chose you" sagt Richard Chamberlain in „Tschaikowsky – Genie und Wahnsinn“ zu ihr. Sie korrigiert ihn: "I chose you." Auf Jackson ist immer Verlass, wenn es gilt, die Dinge richtig zu stellen. Die Pointe liegt freilich darin, dass Chamberlains Tschaikowsky schwul ist. Sie überrumpelt ihn, aber das geht nicht lange gut. Als sie einen Brief an ihn verfasst, geht sie durch alle Verrücktheiten der Liebe, das gesamte Spektrum von sehnsüchtig bis aufgekratzt und überspannt ist da. Sie hatte Übung darin, an Männer zu geraten, die entweder bi- oder homosexuell waren. Das ist eigentlich schon in „Liebende Frauen“ der Fall und in »Sunday, Bloody Sunday« erst recht. So scheint die Blöße, die sie sich gibt, vergeblich. Bis sie auf den Plan trat, war das britische Publikum nicht daran gewohnt, eine seriöse Schauspielerin nackt zu sehen. Noch vor Helen Mirren wurde sie das, was ein britischer Kollege einmal "the thinking man's sex symbol" nannte. Das mochten also Liebesgeschichten ohne Zukunft sein, aber ihre Figuren waren vertraut damit, dass auch das eigene Begehren unstet war. Jackson brachte die Geschlechterverhältnisse in Bewegung. In »Das dreifache Echo« versteckt sie als (verwitwete?) Farmerin einen Deserteur, den sie in Frauenkleider steckt und auch sonst feminisiert. Im Kern versuchte sie unaufhörlich, die Welt der Männer und der Frauen füreinander übersetzbar zu machen.
Oft begegnete sie ihren Leinwandpartnern (Caine, Oliver Reed, George Segal, Walter Matthau) ein zweites Mal, dann unter veränderten Vorzeichen. Sie hielt auch einigen Regisseuren die Stange, Russell sowieso, aber auch Robert Altman. Schade, dass sie nach »Sunday, Bloody Sunday« nie wieder mit John Schlesinger drehte. Sie hätte gut in »Yanks – Gestern waren wir noch Fremde« gepasst, mit Vanessa Redgrave rivalisierte sie um manche Rolle. Jackson war für »Cabaret« im Gespräch, ebenso wie für »Frances«, und um ein Haar wäre sie John Waynes Gegenspielerin in »Rooster Cogburn« (Mit Dynamit und frommen Sprüchen) geworden. Jackson hatte anderes im Sinn. Ihre Bühnenkarriere, die bei Peter Brook begann, war fulminant. Aber in den 1980ern segelte sie vergnügt in ihr nächstes Kino-Lebensalter, als muntere Komplizin von Walter Matthau in »Agentenpoker« und etwas melancholischer in »Ozeanische Gefühle« mit Ben Kingsley. Danach nahm ihr politisches Engagement sie immer mehr in Anspruch. Dem Vernehmen nach muss sie ihren Wahlkreis im House of Commons" gut vertreten haben. Kein Wunder, Glenda Jackson ließ sich von niemandem zum Narren halten.
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