Transatlantische Beunruhigungen
Die Wahrzeichen einer Metropole verleihen Katastrophenfilmen erst ihre eigentliche Dimension. Sie besiegeln, als letzte Bastion kollektiver Identifikation, den Untergang. Nehmen wir nur einmal Big Ben. Der altehrwürdige Turm dient ja nicht selten als Emblem, das unversehens auf verlorenem Posten steht.
Als beispielsweise zu Beginn von »28 Days Later« der Fahrradbote Cillian Murphy aus dem Koma erwacht, findet er sich in einem menschenleeren, verwüsteten London wieder. Es ist eine bedrückende und zugleich majestätische Einsamkeit, in der er durch die seelenlose Metropole irrt. Aber erst als er Big Ben passiert, wird unwiderruflich klar, dass in dem Zombiefilm von Danny Boyle und Alex Garland für die Menschheit wohl wenig Hoffnung besteht.
Für Garland, damals noch Drehbuchautor, war das eine subtile Etüde der Verheerung, die der Brite später als Regisseur in Hollywood zu übertreffen wusste. »Civil War« ist in dieser Hinsicht ein Kabinettstück, das niederschmetternder nicht sein könnte. Washington ist im Finale des Films bereits sturmreif geschossen, den Eroberern wird nur noch vereinzelt Widerstand geleistet. Die Barrikaden sind vergebens errichtet, das Lincoln Memorial steht unter schwerem Beschuss und zerbirst nach einem Granatentreffer. Das Weiße Haus ist verwaist, allerorten liegen Leichen. Eine Beamtin des Secret Service, die über die Kapitulation des Präsidenten verhandeln will, ereilt in Sekundenschnelle das gleiche Schicksal. Der Amtsinhaber selbst, der eingangs noch für den 4. Juli einen glorreichen Sieg über die Truppen der Sezession versprach, wird kurz darauf erschossen wie ein waidwunder Hund.
Gestern, am Vorabend der heutigen Wahl, schaute ich mir »Civil War« noch einmal an. Zugegeben, das war eine morbide Entscheidung. In den letzten Wochen habe ich es wohlweislich vermieden, die Umfragen zur Kenntnis zu nehmen, die sich ja jeden Tag ändern; zumindest in der kurzatmigen Medienberichterstattung. Man macht sich nur verrückt, ändern kann unsereins am Ausgang ja ohnehin nichts mehr. Als ich am Wochenende in der "Frankfurter Rundschau" las, dass eine Bannmeile um das Weiße Haus errichtet wurde, um Ausschreitungen zu verhindern, dachte ich, zumindest filmisch muss ich mich wappnen. Die "Proud Boys" und andere Milizen sind schließlich vorbereitet. (Heute schrieb Claus Leggewie ebenda, man müsse gefasst sein, dass der Faschismus sich nun in den Straßen formiert.) Warum also nicht gleich die Flucht nach vorn, in die Dystopie wagen?
Ich erinnerte mich freilich auch an den unwiderstehichen Satz, mit dem Barbara Schweizerhof ihre Rezension in epd film eröffnet: "Ein Film, der im Jahr 2024 die Fiktion eines zweiten amerikanischen Bürgerkriegs auf die Leinwand bringt, hat es nicht auf reines Entertainment abgesehen." Sie verweist darauf, dass in Garlands Film vorsichtshalber die Sezession von zwei Staaten ausgeht, die zum einen als ein Red State, zum anderen als ein Blue State gelten: Texas und Kalifornien. Zu seiner sozusagen überparteilichen Dramaturgie gehört auch, dass Garland es vermeidet, das Capitol ins Spiel zu bringen. Das ist eine etwas klügere, weniger opportunistische Konzession an konservative Publikumssegmente, als sie das Verschweigen des Klimawandels in »Twisters« unlängst darstellte. Denn letztlich gibt sich Garland gar keine Mühe, irgendjemanden über seine Perspektive zu täuschen. Kalifornien ist nur ein Satellit der so genannten Western Forces, deren Feldzug nimm seinen Ursprung in den Südstaaten. Sie bestehen aus besinnungslosen Rednecks. Auch von einer „Florida Alliance“ ist mulmig die Rede. Gedreht wurde »Civil War« weitgehend in Georgia, wo Trump nach der Wahlniederlage vor vier Jahren bekanntlich befahl, Stimmen für ihn zu finden. Garland weiß genau, wovon er erzählt.
Nach Ansehen seines Films war mir indes nach einer gemütlicheren Fortsetzung des Abends. Dem Schauplatz wollte ich für mein Doppelprogramm treu bleiben. Frank Capra kam nicht infrage (zu treuherzig), eine Binnenperspektive auf dortige Intrigen konnte ich getrost auf eine andere Gelegenheit verschieben. Nein, es musste eine Annäherung von Außen sein, ein transatlantischer Ansatz, wiederum in gefahrvoller Zeit, aber vertrauensvoller. Meine Wahl fiel auf „Sherlock Holmes in Washington“ (Gefährliche Reise) von 1943, den fünften Titel in der trefflichen Reihe mit Basil Rathbone und Nigel Bruce. Es ist zugleich der dritte, in dem Conan Doyles Charaktere zu Helden der damaligen Gegenwart avancieren. Dieser Zeitenwechsel vollzog sich mit patriotischer Pünktlichkeit, er folgte unverzüglich auf den Kriegseintritt der USA. Fortan gehörte es zu Holmes' vornehmsten Aufgaben, diverse Demokratien vor ihren Gegnern zu schützen. Regie führt der zuverlässige Roy William Neill, auf dessen Konto die besten Episoden der Serie gehen. Das pfiffige Drehbuch schrieben der mit allem Krimiwassern gewaschene Bertram Millhauser und Lynn Riggs, von dem die Vorlage für das Musical "Oklahoma" stammt.
Diesmal müssen Holmes und Watson das Verschwinden eines britischen Agenten aufklären, der Geheimdokumente von aller größter Wichtigkeit nach Washington bringen sollte. Watson beunruhigen die jüngsten Cricket-Ergebnisse anfangs mehr als das aktuelle Weltgeschehen, aber die Aussicht, eventuell ein Baseballspiel zu besuchen, beflügelt seine Reiselust. Dafür fehlt die Muße. Immerhin jedoch nimmt sich der Polizist, der die britischen Gäste empfängt, genug Zeit, ihnen die Wahrzeichen der Hauptstadt zu zeigen, zuerst das Lincoln Memorial ("Most impressive!" entfährt es Holmes), sodann das Washington Monument, den Obelisken auf der Mall, und schließlich das Capitol ("Magnificent!"). Das ist eine stolze Passage demokratischer Schaulust, die an eindeutig an Capras »Mr Smith geht nach Washington« anknüpft und zugleich ein Bindeglied darstellt zu »Born Yesterday« (Die ist nicht von gestern), wo George Cukor einige Jahre später Judy Holliday auf eine staatsbürgerlich lehrreiche Ortsbesichtigung schickt.
Holmes hat schon daheim in London herausgefunden, dass der umsichtige Agent das Geheimdokument - ein geradezu mustergültiger McGuffin- auf Mikrofilm verkleinert und in einem Streichholzheftchen versteckt hat. "Big country, small match-holder" räsoniert Watson, aber die Zwei werden rasch fündig. Auf ihm prangt ein zuversichtliches "V", von dem die Figuren nicht ausdrücklich Notiz nehmen, das dem Publikum in Kriegszeiten aber wohl vertraut war. Bei Garland ist das Siegesversprechen des Präsidenten schimärenhaft gefilmt, wird von Unschärfe und Gegenlicht dementiert. Aber hier fügt es sich ín die metaphorisch aufgeschlossene Dramaturgie, als ein Requisit, auf das jeder Zugriff hat. Wie das Heftchen dann auf einer Verlobungsparty von einem Gast zum anderen gereicht wird, hätte Hitchcock gewiss imponiert. (Die Darsteller des Paares heirateten übrigens während der Dreharbeiten - alles in allem also eine sehr gedeihliche Angelegenheit.) Der ruchlose Oberschurke, der schon für den Kaiser spionierte, wird rechtzeitig dingfest gemacht – nicht zuletzt dank der Hilfe eines jovialen, kurios nahbaren Senators. Auf dem Rückweg zum Flughafen weist Holmes seinen Kameraden erneut auf das Capitol hin, "the very heart of this democracy". Watson pflichtet ihm bei: "Yes, Democracy, the only hope for the future." Ihrem Dialog eignet eine Unschuld, zu der es kein Zurück mehr gibt. Das Wahrzeichen steht noch unangefochten da.
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