Sommer in der Stadt
Unter den Gegenwartsregisseuren ist Stefano Sollima der große Apokalyptiker. Wer sollte ihm den Titel streitig machen? Etwa Lars von Trier mit „Melancholia“? Viel zu elegisch. Nein, so hohe kinetische Erwartungen an Niedergang und Weltende wie der Italiener hegt kein anderer.
Er führt nicht nur die menschliche Verworfenheit in endzeitliche Ausmaße, bei ihm spielt auch die Witterung immer zuverlässig mit. In „Suburra“, dessen deutscher Titel passenderweise sieben Tage bis zur Apokalypse abzählt, ist es der Regen, der sich sintflutartig über Rom ergießt. In der ersten Totalen seines neuen Untergangsszenario „Adagio“ lodern im Hintergrund monumentale Feuersbrünste, die jederzeit vom Rand der Stadt auf ihr Zentrum übergreifen können. Rom ist ein einziger Glutofen in dieser Sommernacht. Die Regungen der Figuren kennen nur Siedegrade. Das Stromnetz hält der Hitze nicht stand, unaufhörlich fällt das Licht aus. Ein Kinogesetz: Wenn die Infrastruktur versagt, verliert bald auch die Gesellschaft ihren Halt.
„Adagio“ hatte ich eigentlich schon im Frühjahr mit Spannung erwartet, schließlich spielen Pierfrancesco Favino, Valerio Mastandrea und Toni Servillo mit. Aber ganz einfach war es nicht, ihn zu Gesicht zu bekommen. Auf der Einladung zur Pressevorführung von Plaion fand ich kurioserweise keinen Termin dafür . Er sollte indes am 18. April starten. Pünktlich durchforstete ich das aktuelle Berliner Kinoprogramm. Tatsächlich war er in mehreren UCI-Kinos für die 20-Uhr-Vorstellung angekündigt. Gut, dachte ich, gehst Du am Wochenende eben mal wieder in einen Multiplex. Dann war „Adagio“ plötzlich aus dem Programm verschwunden. Ich hatte keinen Zweifel, dass er existiert – eine Redakteurin hatte ihn im letzten Jahr im Wettbewerb in Venedig gesehen, wo er sie beeindruckt hatte; wenngleich nicht so sehr wie „Suburra“ -, weshalb also diese mysteriöse Versteckspiel?
In ganz Deutschland schien er an diesem Wochenende nur in einem einzigen Kino zu laufen, das zwar einen passenden Namen trägt (Cinecittà), aber doch etwas weit entfernt (in Nürnberg) liegt. Die Pressebetreuerin fand auch nicht mehr heraus, wies mich jedoch darauf hin, dass „Plaion“ ihn Ende Mai auf Blu-ray und DVD veröffentlichen würde. Weshalb lief er davor überhaupt im Kino? War das ein „technischer Start“? Der Begriff bezeichnete früher einen Alibistart, der einzig und allein stattfand, damit sich die Rechte für die Verwertung im Heimkino teurer verkaufen ließen. Das konnte hier nicht der Fall sein, denn es handelte sich um den selben Rechteinhaber. Und die Verwertungskette hat sich ohnehin gewandelt. Lag es daran, dass Netflix an der Produktion beteiligt war? Gut möglich. In „Libération“ hatte ich wenige Tage vorher die Klage eines Kritikers gelesen, dass von den letztjährigen Wettbewerbsbeiträgen in Venedig geschlagene sieben (darunter hochkarätige Titel wie „Ferrari“, „Maestro“ und „The Killer“ von David Fincher) in Frankreich nur auf Streamingplattformen herausgekommen sind. Andere Zeiten, andere Sitten.
Das wiederum ist auch ein Thema in Stefano Sollimas Film, denn die Vergangenheit und der Bruch zwischen den Generationen .haben fatale Konsequenzen. Der Romantiker in mir würde gern glauben, dass sein deutscher Beititel „Erbarmungslose Stadt“ eine Reverenz an den rabiaten Gangsterfilm „Brutale Stadt“ seines Vaters Sergio ist. Allerdings geht es in beiden um Korruption, Verrat und Rache. Jedoch vermute ich, dass der Originaltitel einfach nicht temporeich genug klingt. (Im Italienischen bedeutet „adagio“ ursprünglich ja „behäbig“.) Sergio Sollimas Film (übrigens ein tolles Vehikel für Charles Bronson) ist bündiger und ellipsenreicher, aber Stefano nimmt sich mitnichten mehr Zeit als sein Vater. Bei ihm geht es nur etwas komplizierter zu. Das Drehbuch, das er zusammen mit seinem häufigen Co-Autor Stefano Brises verfasst hat, schlägt zuweilen mehr Volten, als ihm gut tut.
Der junge, pasolinihafte Kleinganove Manuele (Gianmarco Franchini, eine wirkliche Entdeckung) wird von drei finsteren Gestalten erpresst. Dass sie käufliche Polizisten sind und was sie gegen ihn in der Hand haben, erfährt man erst später. Manuele soll in einem genderfluiden Nachtklub inkriminierende Fotos von einem Minister machen, die sich dessen politische Gegner einen Batzen Geld kosten lassen. (Auch das bekommt man erst spät heraus, stört aber nicht.) Manuele kommen Skrupel, eventuell auch Gewissensbisse. Wir haben ihn nicht von ungefähr als fürsorglichen Sohn seines gebrechlichen Vaters (Toni Sevillo) kennengelernt. Der war einmal ein gefürchtete Gangster, den man Daytona nannte. Und ganz so dement, wie es den Anschein hat, ist er nicht. Den Rubikwürfel knobelt er jedenfalls aus, als wieder einmal das Licht ausfällt.
Nun wird Manuele von den Cops gejagt. Zuerst sucht er Zuflucht bei einem alten Kumpan Daytonas, Polniuman (Mastandrea), der inzwischen erblindet ist. Er schickt ihn weiter zum Dritten im Bunde, Cammello (Favino). Die korrupten Polizisten orten derweil Manueles Handy in Polniumans Wohnung. Es kommt zu einem Showdown, in dessen Verlauf der Blinde einen weiteren Stromausfall strategisch zu nutzen versucht. Die fieberhafte Jagd geht in die nächsten Etappe. Der krebskranke Cammello will nichts mehr mit seiner kriminellen Vergangenheit zu schaffen haben und weist den Verfolgten ab. (Favino ist kaum zu erkennen mit seinem nach der Chemo kalgeschorenen Schädel.) Die nun folgenden Wendungen spare ich aus. Nur so viel: Die findigen Cops schrecken vor nichts zurück, um an die Aufnahmen heranzukommen, aber mit den greisen Veteranen („Diese Typen sind lebende Tote.“ - „Und wir haben sie ins Leben zurückgeholt!“) ist immer noch zu rechnen. Die Stars legen großartigen Elan in dieses letzte Aufbäumen.
Abgesehen von den ziemlich brillanten Showdowns und dem Raffinement der Gegenspieler faszinierte mich vor allem die Ambivalenz, mit der die Figuren gezeichnet sind. Vasco, der Anführer der Cops (ein beängstigend charismatischer Adriano Giannni) ist zugleich ein liebevoll sorgsamer Vater – übrigens alleinerziehend, denn dies ist fast exklusiv ein Männerfilm. Im Gegenzug brechen zwischen den einst unzertrennlichen Gangstern alte Konflikte auf. Wie erbittert sie ausgefochten werden, verblüfft. Niemanden ist zu trauen. Als der nächste Tag anbricht – ich war überzeugt, dies bliebe die Geschichte einer Nacht -, geht die Hatz unerbittlich weiter. Heller wird es nicht. Nun ziehen dunkle Rauschwaden über die Stadt, aus denen Ruß und Asche regnen. Die Spezialeffekte sind nicht nur hervorragend, sie gewinnen eine zivilisatorische Dimension. Die Raserei überträgt sich auf die Stadt. Die Bewohner geraten in Panik, auf dem Bahnhof findet eine chaotische Evakuierung statt. Das ist aber noch nicht die Endstation der Verheerung. Manuele steht noch etwas anderes bevor, das zur Apokalypse gehört: eine Art von Erlösung.
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