Schlecht gebrüllt, Löwe!
Wenn guter Rat teuer ist, kann man sich in der Regel auf Sam Goldwyn verlassen. Obwohl sich das Hollywoodgeschäft seit der großen Zeit des Moguls radikal verändert hat, veralten seine Weisheiten selten. Natürlich sind sie nicht dagegen gefeit, missverstanden zu werden. Nehmen wir nur einmal seine bauernschlaue Empfehlung "Don't pay any attention to reviews – don't even ignore them!"
In der Marketingabteilung von Lionsgate müsste man sich den Ratschlag momentan eigentlich um die Ohren hauen. Abwegig wäre es nicht, immerhin gehörte Goldwyn zu den Mitgründern von MGM, die ebenfalls einen Löwen im Wappen tragen. Allerdings scheint man dort ausgesprochen geschichtsvergessen zu sein. Der Verleih sieht sich gerade gezwungen, einen Trailer für Francis Coppolas »Megalopolis« zurückzuziehen, der durchaus auf einer pfiffigen Idee beruht. Er fängt mit einer Litanei von Verrissen an, die »Der Pate«, »Apocalypse Now« und »Bram Stoker's Dracula« ernteten. Die Logik liegt nahe: Wenn die Kritiker sich schon bei diesen Meisterwerken irrten, werden sie es ja nun auch bei dem viel gescholtenen Epos tun. Zugegeben, das ist etwas um die Ecke gedacht, um nicht zu sagen: reichlich defensiv. Und seit wann ist »Dracula« übrigens ein Meisterwerk?
Der wahre Schönheitsfehler der Strategie besteht jedoch darin, dass die griffigen Schnipsel, die hochmögenden Kritikern wie Roger Ebert, Pauline Kael, Andrew Sarris und anderen in den Mund gelegt werden, schlicht erfunden sind. Dabei hätte man in ihren Rezensionen durchaus auf kritische Vorbehalte stoßen können. Aber offenbar hat man sie gar nicht erst gesucht - oder das der KI überlassen. "Vulture" hat indes genauer hingeschaut und gestern die fake reviews entlarvt. Lionsgate hat sich inzwischen bei Coppola und den – inzwischen größtenteils verstorbenen - Kritikern für den Fehler entschuldigt. Owen Gleiberman, dem heutigen Kritiker von "Variety", war bereits aufgefallen, dass seine damalige Kritik zu „Dracula“ für „Entertainment Weekly“ falsch wiedergegeben und seinem jetzigen Medium zugeschrieben wurde.
Der Flurschaden ist groß. Coppola, der ebenso wie Goldwyn um keine Großspurigkeit verlegen ist, hätte der Trailer ansonsten bestimmt gefallen, denn er hebt mit dem Diktum "Genius ist often misunderstood" an und preist ihn sodann als einen Filmemacher, der stets seiner Zeit voraus gewesen sei. Aber zitierfähige Passagen aus Kritiken sind traditionell ein Gut, mit dem in den USA ziemlich nonchalant umgegangen wird. Früher berichteten dortige Kollegen häufig, dass sie vorab von Presseabteilungen nach druckfähigen Lobeshymnen für Filmplakate oder Anzeigen gefragt wurden. Das kann heute immer noch der Fall sein. Damals jedenfalls trieb diese Unkultur tolle Blüten: Sie brachte Spezialisten hervor, die man quote whores schimpfte. Ich erinnere mich an die Zeitungsanzeige für einen längst gnädig vergessenen Film, in der ein Kritiker mit folgendem dirigistischen Unsinn zitiert wurde: "Bezahlen Sie den Babysitter, parken sie Ihren Wagen, kaufen Sie Tickets und eine große Portion Popcorn und genießen sie den Film!" (Eventuell habe ich zwischendrin ein, zwei Aufforderungen ausgelassen.) Ich hoffe, der übergriffige Verfasser hatte ein Einsehen und wechselte direkt in die Werbebranche.
Könnte dergleichen auch bei uns passieren? Ein Unterschied besteht natürlich schon einmal darin, dass man der Filmkritik in den USA eine größere Strahlkraft und Macht unterstellt. Ich müsste mal unter hiesigen Kollegen nachhaken, denn meine eigene Erfahrung ist begrenzt. Vor Urzeiten wurden auch bei mir zwar ein, zwei Mal solche Vorab-Einschätzungen angefragt. Das hörte bald auf, weil mir dafür immer die Begabung fehlte. Meine Kritiken waren einfach zu gediegen, um diesen Ansprüchen zu genügen.
Vor zwei Wochen kam ich beim Essen mit einem befreundeten Kollegen auf die Wirkungslosigkeit unserer Arbeit zu sprechen. Er arbeitet für ein Nachrichtenmagazin mit hoher Auflage, aber auch ihm behagt letztlich der Freiraum, den sie uns beschert. Das Gespräch nahm bald eine Wendung ins Nostalgische und er erinnerte an eine fundamentale Desillusionierung. Anscheinend hatten wir uns verschworen, eine Kampagne zugunsten von David Mamets Regiedebüt „Haus der Spiele“ anzustrengen. Er schrieb im "Tip" eine Eloge, ich eine zweiseitige in der "taz". Und dann verschwand der Film schon nach einer halben Woche aus den Berliner Kinos!
An diese konzertierte Aktion konnte ich mich überhaupt nicht mehr erinnern. Zu meinem nicht minder großen Erstaunen berichtete mein Freund von einem einst sehr prominenten Kollegen (er schrieb für eine einflussreiche Wochenzeitung), der wohl irgendwann in den später 1970ern anfing, seine Kritiken so zu formulieren, dass sie randvoll mit zitierbaren Sätzen waren. Heute schwer zu überprüfen, ob es ihm gelang, damit seine Machtposition auszubauen. Exotisch klang die Geschichte allemal. Aktuell frage ich mich, was Sam Goldwyn wohl Lionsgate angesichts des PR-Fiaskos raten würde. Er könnte natürlich mit seinem notorischen "Include me out" ausweichen oder das Ansinnen mit dem nicht weniger rabulistischen "In two words: im-possible“ abschmettern. Sein Urteil „It's more than magnificent, it's mediocre" wäre sicher keine Hilfe. Vielleicht aber würde er der Marketingabteilung empfehlen, »Megalopolis« mit jenen Worten zu bewerben, die er einst für seine Produktion »Schwere Jungs – leichte Mädchen« fand: "The picture has warmth and charmth."
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